Zentralasien-Kolumne „Steppe Ahead“

Autor: Thorsten Gutmann


Die 80. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York stand im Zeichen multipler globaler Krisen: der Krieg in der Ukraine, die humanitäre Katastrophe in Gaza, Spannungen im Nahen Osten und die ungelöste Frage internationaler Klimapolitik. In diesem Umfeld trat eine Region hervor, die noch vor wenigen Jahren kaum Aufmerksamkeit beanspruchte: Zentralasien.

Erstmals nahmen alle fünf Staatschefs, Schawkat Mirzijojew (Usbekistan), Kassym-Dschomart Tokajew (Kasachstan), Sadyr Dschaparow (Kirgisistan), Emomalij Rahmon (Tadschikistan) und Serdar Berdimuhamedow (Turkmenistan), persönlich an der Generaldebatte teil. Diese geschlossene Präsenz ist ein politisches Signal. Sie verdeutlicht, dass Zentralasien nicht länger am Rand der Weltpolitik stehen will, sondern die UN bewusst als Bühne nutzt, um eigene Akzente zu setzen.

Forderungen nach Reform und neuer Repräsentation

Die zentrale Botschaft der Region war eindeutig: Die Vereinten Nationen müssen sich reformieren, um in einer fragmentierten Weltordnung handlungsfähig zu bleiben. Usbekistan und Kasachstan sprachen sich für eine Erweiterung des Sicherheitsrats aus, um die Interessen mittlerer Mächte und Entwicklungsländer besser abzubilden. Kirgisistan kündigte eine Kandidatur für die Amtsperiode 2027 bis 2028 an. Turkmenistan wiederum unterstrich die universelle Legitimität der UN, in Kontinuität seiner seit 1995 anerkannten Neutralität.

Damit greifen die zentralasiatischen Staaten eine weltweite Debatte auf, die durch den „Pakt für die Zukunft“ der diesjährigen Generalversammlung verstärkt wurde. Ihr Tenor: Die internationale Ordnung des 20. Jahrhunderts reicht nicht mehr aus, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern.

Pragmatische Diplomatie und Sicherheitsfragen

Neben institutionellen Reformen betonten die Präsidenten ihre regionalen Sicherheitsinteressen. Usbekistan schlug ein Regionalbüro der UN-Anti-Terror-Einheit vor, Tadschikistan warnte vor Drogenhandel und Cyberkriminalität an seiner Südgrenze. Kasachstan und Kirgisistan forderten eine Umlenkung von Rüstungsausgaben in soziale Projekte, ein bemerkenswerter Akzent in einer Zeit wachsender globaler Aufrüstung.

Zugleich machten die Staatschefs deutlich, dass Afghanistan in regionale Strukturen integriert werden müsse. Hier zeigt sich der Unterschied zur westlichen Haltung: Während viele Länder auf Distanz bleiben, verfolgen die zentralasiatischen Nachbarn einen Kurs pragmatischer Zusammenarbeit, ohne die Taliban-Regierung formell anzuerkennen.

Haltung zu globalen Konflikten

In den Reden spiegelte sich auch die diplomatische Gratwanderung der Region. Usbekistan und Kasachstan riefen zu einer politischen Lösung im Ukrainekrieg auf, ohne eine Seite scharf zu verurteilen. Damit halten sie eine Balance zwischen der Nähe zu Russland und dem Wunsch nach internationaler Anerkennung.

Kirgisistan wählte im Blick auf den Gazakonflikt deutlichere Worte. Es sprach von „Genozid“ und kritisierte doppelte Standards. Damit positionierte sich Bischkek offener als viele westliche Staaten, die an vorsichtigeren Formulierungen festhalten.

Klima, Wasser, Zukunftstechnologien

Neben akuten Krisen rückten langfristige Herausforderungen in den Vordergrund. Usbekistan stellte seine Aufforstungs- und Wasserprojekte zur Rettung des Aralsees vor, Tadschikistan warnte vor den Folgen schmelzender Gletscher, Turkmenistan verwies auf seine Initiativen zur Bekämpfung der Wüstenbildung. Gemeinsam machten sie deutlich: Zentralasien ist vom Klimawandel in besonderer Weise betroffen, da sich die Region doppelt so schnell erwärmt wie der globale Durchschnitt.

Zudem betonten Usbekistan, Kasachstan und Tadschikistan die Notwendigkeit einer internationalen Regulierung und Kooperation im Bereich Künstliche Intelligenz. Sie schlugen regionale Kompetenzzentren vor, um die Chancen neuer Technologien zu nutzen, ohne die Risiken aus den Augen zu verlieren.

Eine neue Rolle zwischen Ost und West

In der Summe zeigen die Auftritte der zentralasiatischen Präsidenten eine strategische Neuorientierung. Statt als Objekt geopolitischer Konkurrenz verstanden zu werden, zwischen Russland, China und dem Westen, tritt die Region als eigenständiger Mitgestalter auf. Kasachstan präsentiert sich als Transitdrehscheibe für 80 Prozent des Warenverkehrs zwischen Asien und Europa. Usbekistan spricht von einer „Neuen Zentralasien“, die als Modell für regionale Kooperation dienen soll.

Die Botschaft ist klar: Zentralasien nutzt die UN nicht nur als Forum zur Artikulation eigener Anliegen, sondern als Bühne zur Selbstbehauptung. In einer multipolaren Weltordnung, die immer stärker von Blockbildungen und Rivalitäten geprägt ist, positioniert sich die Region als Brückenbauer zwischen Ost und West, Nord und Süd.

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