Autor: Dietrich Schartner


Während der Südkaukasus traditionell als Spielball geopolitischer Machtverhältnisse wahrgenommen wird, vollzieht sich in Georgiens Hauptstadt Tbilissi eine wirtschaftliche Transformation, die Aufmerksamkeit verdient. Das Land hat sich in den letzten fünf Jahren zu einem überraschend dynamischen Zentrum für Technologie-Startups und digitale Innovationen entwickelt. Dies ist kein Zufall, sondern das Ergebnis gezielter Politiken, günstiger Rahmenbedingungen und einer wachsenden Emigrationswelle von Tech-Talenten aus benachbarten Ländern. Für einen Staat, der geografisch zwischen den Großmächten eingezwängt ist, stellt dieser Weg eine Chance dar, wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erlangen.

Der Brain-Drain wird zur Brain-Gain

Georgien profitiert derzeit von einem paradoxen Phänomen: Während das Land historisch unter Abwanderung litt, zieht Tbilissi zunehmend Tech-Entwickler und Unternehmer aus Russland, Armenien und Aserbaidschan an. Die Gründe sind vielfältig – niedrigere Lebenshaltungskosten als in westeuropäischen Städten, eine liberale Lizenzgebung von Kryptounternehmen und nicht zuletzt eine relative politische Stabilität, die Startups als attraktiv erscheint. Schätzungen deuten darauf hin, dass sich etwa 800 bis 1.200 Tech-Startups in Georgien befinden, viele davon in den Bereichen Fintech, E-Commerce und Softwareentwicklung.

Die georgische Regierung hat diesen Trend erkannt und mit Maßnahmen wie dem „Remotely from Georgia“-Programm und vereinfachten Visa-Regeln gezielt unterstützt. Dies könnte Georgien zu einem regionalen Tech-Hub machen – ähnlich wie Istanbul oder Bukarest in anderen Teilen Europas.

Infrastruktur und internationales Kapital

Ein wesentlicher Treiber dieser Entwicklung ist die Verbesserung der digitalen Infrastruktur. Georgien verfügt inzwischen über hochmoderne Rechenzentren und zuverlässige Breitbandverbindungen, die es westlichen Investoren erlauben, in lokale Unternehmen zu investieren. Venture-Capital-Fonds aus den USA und Europa zeigen zunehmend Interesse an georgischen Tech-Firmen. Gleichzeitig lockt Tbilissi auch kleine bis mittlere Unternehmen an, die ihre Betriebskosten senken wollen, indem sie Entwickler vor Ort beschäftigen.

Die Weltbank und internationale Entwicklungsinstitutionen haben Georgiens Reformbemühungen anerkannt und unterstützen Infrastrukturprojekte. Dies schafft eine positive Feedback-Schleife: bessere Infrastruktur zieht mehr Talente an, mehr Talente führen zu mehr Unternehmungen und Wertschöpfung.

Die Risiken der Abhängigkeit

Doch auch dieses Erfolgsmodell birgt Risiken. Georgien besteht darauf, dass es ein „neutrales“ Land sei, balanciert aber tatsächlich zwischen dem Westen, Russland und der Türkei. Sollte sich die geopolitische Lage destabilisieren – etwa durch weitere Spannungen in der Region oder durch Sanktionen gegen russische Unternehmen, die in Tbilissi tätig sind – könnte dies die gerade entstehende Tech-Szene empfindlich treffen. Kritiker warnen zudem, dass Georgien Gefahr läuft, zum Outsourcing-Standort für westliche Konzerne zu werden, ohne dass echte Innovationen heimischer Unternehmen entstehen.

Perspektiven für den Südkaukasus

Georgiens digitale Transformation deutet auf eine mögliche Zukunft für die gesamte Region hin. Wenn es dem Land gelingt, seine Rolle als Tech-Hub zu stabilisieren und gleichzeitig lokale Talente zu entwickeln, könnte dies auch für Armenien und Aserbaidschan ein Modell bieten. Der Schlüssel liegt darin, Technologie nicht als bloße Anpassung an globale Märkte zu verstehen, sondern als Werkzeug zur wirtschaftlichen Emanzipation von regionalen Großmächten.

Die kommenden Jahre werden zeigen, ob Georgiens Experiment gelingt – oder ob es eine weitere Form der wirtschaftlichen Abhängigkeit offenbart, nur diesmal nicht von Rohstoffen, sondern von digitalen Fähigkeiten und externem Kapital.

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