Andrey Klepatsch

Autor: Klaus Dormann


Noch wird gerätselt, ob die Produktion der russischen Wirtschaft nach einem starken Wachstumsschub am Jahresende 2024 nicht nur im ersten Quartal, sondern auch im zweiten Quartal 2025 gegenüber dem vorangegangenen Quartal gesunken ist. Damit wäre Russland nämlich in eine „technische“ Rezession geraten. Erste Schätzungen dazu dürften Anfang August veröffentlicht werden, wenn das Statistikamt Rosstat die Konjunkturdaten für den Monat Juni vorgelegt hat.

Informationen zur Entwicklung des realen Bruttoinlandsprodukts Russlands „von Monat zu Monat“ bieten monatliche Schätzungen des Forschungsinstituts der staatlichen Bank für Außenwirtschaft, der Wneschekonombank (VEB). Bisher hat das VEB-Institut allerdings noch keine Schätzung für die saison- und kalenderbereinigte Entwicklung im Mai veröffentlicht.

Andrey Klepatsch, der 66jährige Chef-Volkswirt der Wneschekonombank, äußerte sich aber in mehreren Interviews zur aktuellen Konjunkturentwicklung in Russland. Er nahm auch zur Wirksamkeit der westlichen Sanktionen Stellung. Dabei wies er auf Risiken einer wachsenden Abhängigkeit Russlands von China hin. Der Journalist Andrey Gurkov sieht Russland inzwischen bereits als „abhängigen Juniorpartner Chinas“.

Klepatschs Prognose: Die Wirtschaft wächst 2025 um rund 1,5 Prozent

In einem Anfang Juli veröffentlichten Le Monde-Interview meinte der frühere Stellvertretende Wirtschaftsminister Klepatsch auf die Frage, ob die russische Wirtschaft in eine Rezession eingetreten sei, er würde eher von einer Stagnation oder Wachstumspause sprechen. Das Bruttoinlandsprodukt sei im ersten Quartal 2025 gegenüber dem vierten Quartal 2024 um rund 0,5 Prozent gesunken (siehe VEB-Institut: BIP-Index April 25). Gegenüber dem ersten Quartal 2024 sei es um 1,4 Prozent gestiegen.

Zur weiteren Entwicklung im zweiten Quartal 2025 sagte Klepatsch, laut ersten Kalkulationen des VEB-Instituts habe es im zweiten Quartal gegenüber dem ersten Quartal voraussichtlich weder einen Anstieg noch einen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion gegeben. Im Mai und Juni sei der Rückgang der Produktion im Vergleich mit dem April unbedeutend gewesen. Es handele sich in Russland nicht um eine Rezession.

Hinsichtlich der Entwicklung der Nachfrage meinte Klepatsch, der Anstieg des Verbrauchs habe sich im Vorjahresvergleich zwar sicherlich verlangsamt, der Verbrauch wachse aber weiterhin. Die Investitionen seien im ersten Quartal um rund 5 Prozent gestiegen – stärker als erwartet. Dieser Trend sei nicht nur bei öffentlichen, sondern auch bei privaten Projekten zu verzeichnen. Das sei ein gutes Zeichen.

„In der Theorie“, so Klepatsch, werde Russlands Wirtschaft im dritten Quartal oder in der zweiten Jahreshälfte wieder zu wachsen beginnen. Das werde hauptsächlich von der Entwicklung in der Landwirtschaft und im Rüstungssektor abhängen.

Im Mai 2025 ist das reale Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahresmonat nach Angaben des Wirtschaftsministeriums um 1,2 Prozent gewachsen. In den ersten fünf Monaten des Jahres war es laut dem Ministerium 1,5 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum (Interfax.com, Kommersant.ru).

Andrey Klepatsch erwartet auch im Gesamtjahr 2025 ein Wachstum der russischen Wirtschaft von 1,5 Prozent. Diese Prognose entspricht weitgehend den Erwartungen Internationaler Wirtschaftsorganisationen und dem „Konsens“ russischer Analysten. Das zeigt die folgende Abbildung aus dem „Russia Chartbook“ der Kiewer „School of Economics“ mit Prognosen des IWF, der Weltbank und der OECD sowie dem Mittelwert der Prognosen bei der Analysten-Umfrage der russischen Zentralbank.

Russlands reales Bruttoinlandsprodukt,
Veränderungen gegenüber Vorjahr in Prozent

2026 erwartet Klepatsch laut Le Monde allerdings, dass das Wachstum auf „über 2,3 bis 2,5 Prozent“ ansteigt. Die Internationalen Wirtschaftsorganisationen rechnen im nächsten Jahr hingegen mit einer weiteren Abschwächung des russischen Wirtschaftswachstums. Ihre Prognosen für 2026 liegen bei nur noch rund 1 Prozent.

Auch der Mittelwert der Wachstumsprognosen für 2026 bei der Anfang Juni veröffentlichten Analysten-Umfrage der Zentralbank war mit +1,7 Prozent merklich niedriger als Klepatschs Prognose. Am 16. Juli wird das Ergebnis einer neuen Zentralbank-Umfrage veröffentlicht (Umfrage-Kalender).

Der Rüstungssektor ist für Russland ein Wachstumstreiber

Klepatsch bestätigte In dem auch von Inosmi.ru zitierten Le Monde-Interview, dass der Rüstungssektor ein wichtiger Wachstumsträger der russischen Wirtschaft sei. Dieser Sektor bilde heute zusammen mit dem Energiesektor „den Kern“ der russischen Wirtschaft. Die Ausgaben für Verteidigung und nationale Sicherheit machten inzwischen mehr als 8 % des Bruttoinlandsprodukts aus. Dieses Ausgabenniveau entspreche in etwa dem der USA während des Koreakrieges. Der Rüstungssektor wachse derzeit um „mehr als 10 %“ pro Jahr.

Probleme machen die hohen Zinsen und der starke Rubel-Kurs

Zur Entwicklung der „zivilen Sektoren“ der russischen Wirtschaft meinte Klepatsch, sie würden auch wachsen, aber deutlich schwächer. Ihre Entwicklung hänge maßgeblich von der Geldpolitik ab. Im Jahr 2026 könnten diese Sektoren wieder zu den wichtigsten treibenden Kräften der Wirtschaft werden.

Klepatsch wies darauf hin, dass es den Unternehmen derzeit aufgrund der sehr hohen Zinsen schwer falle, Finanzierungen für Investitionen und Wachstum zu finden. Der Anteil der von Banken gewährten Kredite mit Zinssätzen über 20 % sei aber gering. Mehr als 70 % der Investitionen stammten aus Eigenmitteln der Unternehmen und mehr als 20 % aus staatlichen Mitteln.

Die aktuelle Stärke des Rubels sei für die Unternehmen ebenfalls ein Problem, da sie die Exporterlöse weiter reduziere. Klepatsch meint, es wäre für die russische Wirtschaft zwar günstig, wenn der Kurs zu 100 Rubel je US-Dollar zurückkehren würde. Das sei 2025 aber unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher sei ein Kurs von 85 Rubel je US-Dollar am Jahresende (TASS).

Klepatsch: Die Inflationsrate sinkt Ende 2025 auf 6 bis 7 Prozent

Der Chef-Volkswirt der Wneschekonombank erwartet, dass sich die Inflationsprobleme im weiteren Verlauf des Jahres 2025 abschwächen. Er prognostizierte am 09. Juli am Rande der Innoprom-Ausstellung in Jekaterinburg, dass der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise bis zum Jahresende 2025 auf 6 bis 7 Prozent sinken dürfte (TASS). Der Leitzins könnte von 20 Prozent auf 15 Prozent am Jahresende gesenkt werden (nakanune.ru).

Die folgende Abbildung der „Kyiv School of Economics“ zeigt die Senkung der „Policy rate“ der russischen Zentralbank am 06. Juni auf 20 Prozent. Die „Headline Inflation“, der jährliche Anstieg der Verbraucherpreise, sank im Mai allerdings nur wenig auf 9,9 Prozent. Die „Core Inflation“, die „Kerninflationsrate“ , betrug noch 8,9 Prozent (TradingEconomics-Chart). Die von der russischen Zentralbank angestrebte Inflationsrate von 4 Prozent („CBR target“) wird noch weit überschritten.

Gleichzeitig zeigen die grauen Säulen in der Abbildung aber, dass sich der Anstieg des Indexes der Verbraucherpreise gegenüber dem Vormonat seit Anfang 2025 stark abgeschwächt hat.

Inflation und Leitzins der russischen Zentralbank

Kyiv School of Economics: Russia Chartbook, 03.07.25

Im Juni sank die jährliche Inflationsrate weiter auf 9,4 Prozent. Der Anstieg der Verbraucherpreise gegenüber dem Vormonat halbierte sich im Juni auf nur noch 0,2 Prozent (TradingEconomics-Chart, Finmarket.ru).

Die Konsensprognose der von Interfax Anfang Juli befragten Analysten für die Inflationsrate am Jahresende 2025 sank auf 6,8 %. Bis Ende 2026 erwarten die Analysten im Durchschnitt einen weiteren Rückgang der Inflationsrate auf 4,9 %.

Weitere Leitzinssenkung am 25. Juli wahrscheinlich

Zur aktuellen Entwicklung der Verbraucherpreise in der Woche vom 01. bis zum 07. Juli  meldet RBC.ru: Nach Angaben des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung stieg die Inflation im Jahresvergleich von 9,39 % auf 9,45 %. Seit Jahresbeginn ist der Verbraucherpreisindex um 4,58 % gestiegen.

Viele von RBC Investments befragte Experten erwarten, dass die Zentralbank am 25. Juli den Leitzins um 200 Basispunkte auf 18 % senken dürfte. Einige rechnen aber mit einer schwächeren Senkung.

Vertreter der Zentralbank sprachen seit Ende Juni mehrfach die Möglichkeit einer weiteren Senkung des Leitzinses an. Der Stellvertretende Zentralbankpräsident, Alexej Zabotkin, meinte laut RBC.ru am 30. Juni zu einer Senkung des Leitzinses um mehr als 100 Basispunkte:

„Die Entscheidung auf der Juli-Sitzung wird davon abhängen, wie zuversichtlich wir sind, dass sich die Inflation auf einem Kurs bewegt, der eine Rückkehr zu 4 % im Jahr 2026 sicherstellt. Wenn die bis dahin vorliegenden Daten zur Wirtschaft, zum Arbeitsmarkt, zur Kreditaktivität, zur Inflation selbst und zu den Inflationserwartungen darauf hindeuten, dass eine Verlangsamung der Inflation auf 4 % mit einem größeren Schritt vereinbar ist, dann wird auch diese Option in Betracht gezogen.“

Natalia Vaschelyuk, Senior Analystin der Pervaya Management Company, hält eine Leitzinssenkung auf 18 Prozent für wahrscheinlich. Gleichzeitig weist sie unter anderem auf die bisherige starke Steigerung der Ausgaben im Bundeshaushalt und die weiterhin angespannte Arbeitsmarktlage hin. Diese „Inflationsrisiken“ könnten den Spielraum für eine Leitzinssenkung einschränken.

Die Ausgaben des Bundeshaushalts stiegen in der ersten Jahreshälfte im Vergleich zum Vorjahr um rund 20 % (Finam.ru). Um den jährlichen Ausgabenplan (42,3 Billionen Rubel) zu erfüllen, müssen die Ausgaben im Zeitraum Juli-Dezember 2025 um 1,5 Billionen Rubel niedriger ausfallen als in der zweiten Jahreshälfte 2024. Das sei, so die Analystin, ein „ziemlich ehrgeiziges Ziel“.

Die Arbeitslosenquote erreichte im Mai einen neuen historischen Tiefstand von 2,2 % (TradingEconomics-Chart). Die  Verlangsamung des nominalen Lohnwachstums im April auf 15,3 % gegenüber dem Vorjahr kann, so die Analystin, noch nicht als ausreichend angesehen werden. Real waren die Löhne im April 4,6 Prozent höher als vor einem Jahr (TradingEconomics-Chart).

Das Defizit im Bundeshaushalt wird 2025 viel höher als geplant

Die unerwartet ungünstige Entwicklung des Bundeshaushalts spricht auch eine Analyse der US-Ausgabe der spanischen Zeitung „El Pais“ an. Die Autoren sehen Russland „nach 40 Monaten Krieg am Rand eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs“. Sie meinen zur Entwicklung des Bundeshaushalts:

„Die Regierung hatte gehofft, das Jahr 2025 mit einem öffentlichen Defizit von nur 0,5 Prozent abzuschließen, dem niedrigsten seit 2021, als der Krieg gerade erst begann und die hohen Preise für fossile Brennstoffe die Staatskasse füllten. Doch die extrem kostspieligen Kämpfe in der Ukraine dauern an, und das Unterhaus hat seine Defizit-Prognose gerade auf mehr als das Dreifache korrigiert: Es erwartet nun ein Defizit von 1,7 Prozent, genauso viel wie 2024.“

Gleichzeitig weisen die Autoren darauf hin, dass im russischen „Staatsfonds“ nur noch weniger als vier Billionen Rubel liquider Reserven vorhanden seien. Das prognostizierte Defizit für das Jahr 2025 sei etwas ebenso hoch.

Das Sanktionsproblem kann nicht allein durch Importe aus China gelöst werden

Zur Wirksamkeit der westlichen Sanktionen meint Andrey Klepach im Le Monde-Interview, die Sanktionen stellten für die russische Wirtschaft zwar sehr ernste technologische und finanzielle Hindernisse dar, weil die russische Wirtschaft nach wie vor stark von Importen abhängig sei. In den letzten drei Jahren hätten aber viele russische Unternehmen durch den Aufbau einer eigenen Inlandsproduktion oder Importe aus anderen Ländern, vor allem aus China, Alternativen zu Lieferungen aus dem Westen finden können. „Die russische Wirtschaft weiß, wie man sich anpasst“, so Klepach.

Gleichzeitig wies Klepach auf Risiken der gestiegenen Abhängigkeit Russlands von China hin. Der chinesischen Regierung gehe es in erster Linie um die wirtschaftlichen Interessen ihres Landes. Der Handel mit den USA und Europa sei für sie wichtiger als der Handel mit Russland. Aus Angst vor den „Nebenwirkungen“ der von den USA und der EU gegen Russland verhängten Sanktionen seien chinesische Banken zudem gezwungen, die Abwicklung von Zahlungen teilweise auszusetzen. Klepach fordert, Russland müsse Alternativen zu China finden. Es bestehe die Gefahr, dass China aus verschiedenen Gründen seine Lieferungen nach Russland einstellen könne, wie es zuvor die Europäer getan hätten.

In einem RIA Novosti-Interview meinte Klepatsch, für die russische Wirtschaft sei es heute vor allem wichtig, die eigene Produktion auszubauen, insbesondere in den Bereichen, die die Zukunft und die internationale Wettbewerbsfähigkeit bestimmen. „Bei der Importsubstitution stehen wir erst ganz am Anfang“, sagte er (1Prime.ru).

Andrey Gurkov: Russland ist ein „abhängiger Juniorpartner Chinas“ geworden

Der Journalist Andrey Gurkov, Autor des Buches „Für Russland ist Europa der Feind“, analysierte das Abhängigkeitsverhältnis Russlands von China in einem ZDF-Interview („Global PolitiX“) kürzlich zusammengefasst so:

Russland ist seit dem Beginn des Ukraine-Krieges mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit zu einem abhängigen Juniorpartner von China geworden. Das liegt daran, dass Putin in dem Augenblick, in dem sich die Europäer ganz entschlossen auf die Seite der Ukraine gestellt haben, in wenigen Monaten, wenn nicht gar Wochen, das jahrzehntelange „Businessmodell“ zwischen Russland und Europa zerstörte. Das Geschäftsmodell bestand darin, dass die meisten russischen Exporte (in erster Linie Energie, aber auch Metalle, Holz, Düngemittel) nach Europa gingen. Europa war der mit Abstand wichtigste Absatzmarkt für Russland. Der Krieg hat dieses Modell zerstört.

China diktiert die Preise und hat kein Interesse an Investitionen in Russland

Jetzt muss Putin, so Gurkov, zwangsläufig nach China exportieren und er muss aus China importieren, beispielsweise Maschinen, die früher aus Deutschland oder aus anderen EU-Ländern kamen. Diese Maschinen können nicht mehr aus Europa eingeführt werden, weil die meisten Maschinen, die ja auch für militärische Zwecke verwendet werden können, unter Sanktionen stehen.

Also kauft Putin in China nicht nur Konsumgüter, die früher oft in Europa oder in den USA gekauft wurden, er kauft dort auch Maschinen. Dabei hängt er davon ab, wie „gnädig“ China beim Einkauf von russischem Öl, Gas oder Kohle ist. China ist sehr auf seine Interessen bedacht. Es ist klar, wenn Russland keine anderen großen Absatzmärkte hat außer China, dann diktieren die Chinesen die Preise.

Das ist ein Prozess, der den wirtschaftlichen Niedergang Russlands und gleichzeitig seine Abhängigkeit von China enorm beschleunigt. In Russland sieht man diesen Prozess und man ist sehr enttäuscht darüber, dass die Chinesen in Russland nicht investieren. Man hatte in Russland gedacht, dass die Chinesen wie die Europäer, wie zum Beispiel Volkswagen, mit ihren Investitionen nach Russland gehen und Autofabriken aufbauen. Aber die Chinesen haben überhaupt kein Interesse, irgendwelche Produktionsstätten in Russland aufzubauen. Sie haben selber mehr als genug jegliche Waren. Sie haben steigende Probleme, diese Waren in den USA und auch in Europa abzusetzen. Natürlich ist Russland kein außerordentlich großer, aber doch ein nennenswerter Markt für den Absatz von in China hergestellten Produkten. Deswegen will China keine Produktion in Russland unterstützen.


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