Autor: Klaus Dormann
Russlands Wirtschaft steht „am Rande einer Rezession“. Mit dieser These machte Wirtschaftsminister Reschetnikow beim Internationalen Wirtschaftsforum in St. Petersburg Schlagzeilen. Nach einem kräftigen Wachstumsschub im vierten Quartal 2024 war Russlands Bruttoinlandsprodukt im ersten Quartal 2025 gegenüber dem Vorquartal gesunken. Einige Analysten vermuteten, dass die Wirtschaft auch im laufenden zweiten Quartal gegenüber dem Vorquartal schrumpfen könnte. Russland würde damit eine „technische Rezession“ verzeichnen. Laut Rosstat hat die Industrieproduktion im Mai jedoch wieder ihren bisherigen Höchststand vom Dezember 2024 erreicht. Die kräftige Erholung der Industrieproduktion spricht dafür, dass auch die Produktion der russischen Gesamtwirtschaft im zweiten Quartal saison- und kalenderbereinigt höher sein wird als im ersten Quartal.
Bekannte Analysten schlossen bisher eine technische Rezession nicht aus
Bevor die Erholung der Industrieproduktion bekannt wurde, hielten es einige Experten für möglich, dass Russlands gesamtwirtschaftliche Produktion in diesem Jahr in zwei aufeinander folgenden Quartalen sinken könnte.
Dmitry Belousov, Stellvertretender Generaldirektor des Moskauer „Center for Macroeconomic Analysis and Short-term Forecasting“ (CMASF), meinte beim SPIEF in einem URA.ru-Interview, „unter mehr oder weniger normalen Bedingungen“ werde das Bruttoinlandsprodukt 2025 um 1,5 bis 1,8 Prozent wachsen. Eine „technische Rezession“ schloss Belousov dabei offenbar nicht aus. Er argumentierte, aufgrund der außenwirtschaftlichen Risiken sei 2025 im Verlauf von ein bis zwei Quartalen ein Rückgang des BIP um rund 1 Prozent möglich. Sofern aber nichts Unerwartetes passiere, würden bis zum Jahresende 2025 „schwarze Zahlen“ in der Gesamtwirtschaft geschrieben. Als Risiken für seine Prognose nannte Belousov eine „übermäßige Stärkung“ des Rubels mit Problemen für Exporteure und hohe Zinsen, die Investitionen verhindern.
Wie Belousov hielt auch Olga Belenkaya, Chef-Volkswirtin der Börsenfirma FINAM, eine technische Rezession im Jahr 2025 für möglich. Sie verwies in der letzten Woche laut einem Finam.ru-Bericht darauf, dass das reale BIP im ersten Quartal 2025 gegenüber dem Vorquartal saisonbereinigt um 0,6 Prozent gesunken sei. Eine „technische Rezession“ innerhalb des Jahres 2025 könne nicht völlig ausgeschlossen werden. Bisher sprächen die Daten aber dafür, dass das Wirtschaftswachstum im Jahresvergleich 2025/2024 anhalten werde, meinte Belenkaya. Sie erwartet ein Wirtschaftswachstum von rund 1,5 Prozent, deutlich weniger als das Wirtschaftsministerium im April prognostizierte (+2,5 Prozent).
FocusEconomics: So flaute Russlands Konjunktur im ersten Quartal ab
In der folgenden Abbildung des in Barcelona ansässigen Research-Unternehmens FocusEconomics zeigt die schwarze Linie den Rückgang des saisonbereinigten realen Bruttoinlandsprodukts Russlands um 0,6 Prozent im ersten Quartal 2025 gegenüber dem vierten Quartal 2024.
Im Vorjahresvergleich zum ersten Quartal 2024 flaute das BIP-Wachstum auf nur noch 1,4 Prozent ab (blaue Säule). Im vierten Quartal 2024 war das reale BIP hingegen im Vorjahresvergleich noch kräftig um 4,5 Prozent gewachsen.

Als Gründe für die Abschwächung der gesamtwirtschaftlichen Produktion am Anfang des Jahres 2025 nennt FocusEconomics die zunehmende Belastung durch den anhaltenden Krieg, die Sanktionen sowie die „himmelhohen“ Zinssätze und Inflationsraten.
Im Jahresvergleich 2025/2024 wird ein weiteres Wachstum der Wirtschaft erwartet
Die von FocusEconomics gesammelten Prognosen von Banken und Instituten lassen im Durchschnitt erwarten, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2025 mehr als halbiert. Laut FocusEconomics sinkt die Consensus-Prognose unter die durchschnittliche Wachstumsrate von 1,9 Prozent, mit der die russische Wirtschaft in den 10 Jahren vor der Pandemie wuchs.
In Anfang Juni von Interfax und Reuters veröffentlichten Umfragen rechneten die Analysten für das Gesamtjahr 2025 im Durchschnitt mit einem Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts um 1,5 Prozent.
Einen halben Prozentpunkt mehr Wachstum erwartet die in Almaty in Kasachstan ansässige „Eurasian Development Bank“, eine von Russland und 6 weiteren früheren Mitgliedsstaaten der Sowjetunion getragene Entwicklungsbank. In ihrem halbjährlich erscheinenden Wirtschaftsausblick prognostizierte sie im Juni für Russland ein Wirtschaftswachstum von 2,0 Prozent im Jahr 2025.
Das Moskauer CMASF erhöhte Ende Mai in seiner monatlich aktualisierten „Basisversion der makroökonomischen Prognose für 2025 bis 2028“ seine Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft auf 1,2 bis 1,5 Prozent. Ende Juni senkte das Zentrum diese Prognose aber wieder etwas auf 1,0 bis 1,4 Prozent.

VEB-Institut: Im April zog die gesamtwirtschaftliche Produktion wieder an
Das Forschungsinstitut der staatlichen Bank für Außenwirtschaft (Wneschekonombank) veröffentlichte in der letzten Woche eine Analyse der Entwicklung der russischen Wirtschaft im April und Mai 2025. Zur Entwicklung des Indexes des realen Bruttoinlandsprodukts bis einschließlich April enthält sie folgende Abbildung. Sie zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion von ihrem im Dezember 2024 erreichten Höchststand bis Ende März 2025 um insgesamt rund 2 Prozent gesunken ist.
Im April stieg das BIP dann gegenüber März laut Schätzung des VEB-Instituts saison- und kalenderbereinigt um 0,5 Prozent. Sein Vorjahresniveau übertraf das BIP im April um 1,9 Prozent (siehe Tabelle).
Index des realen Bruttoinlandsprodukts, Januar 2014=100

VEB-Institute: Russian Economy in April and May 2025, 25.06.25
Die Industrieproduktion stieg im Mai auf den höchsten Stand seit Jahresbeginn
Inzwischen liegen erste Konjunkturdaten für Mai vor. Am 25. Juni teilte das Statistikamt Rosstat mit, dass Russlands Industrieproduktion im Mai im Vergleich zum Mai 2024 um 1,8 Prozent gewachsen ist. Saison- und kalenderbereinigt stieg sie auf den höchsten Stand seit Jahresbeginn. Nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der staatlichen Bank für Außenwirtschaft (Wneschekonombank) war die Industrieproduktion insgesamt im Mai saison- und kalenderbereinigt 2,1 Prozent höher als im April (siehe schwarze Linie in der folgenden Abbildung).

Zum bereinigten Wachstum der Industrie im Mai gegenüber April um 2,1 Prozent trug das „Verarbeitende Gewerbe“ (obere dunkelgrüne Linie) am stärksten bei. Seine Produktion war im Mai 3,3 Prozent höher als im Vormonat (siehe folgende Tabelle).
Im Industriesektor „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ stieg die Produktion im Mai insgesamt nur um 0,2 Prozent gegenüber dem Vormonat. Dabei nahmen nicht nur die Ölförderung und die Produktion von verflüssigtem Erdgas (LNG) zu. Auch die Förderung der Bergwerke wuchs.
Die Produktion der Unternehmen zur Versorgung mit Strom, Gas und Wasser stieg im Mai gegenüber April laut VEB-Institut aufgrund des ungewöhnlich kalten Wetters saison- und kalenderbereinigt um +1,5 Prozent.

FocusEconomics: Im Mai stieg das jährliche Wachstum der Industrie auf 1,8 Prozent
FocusEconomics zeigt in der folgenden Abbildung mit der schwarzen Linie, dass die jährliche Wachstumsrate der Industrieproduktion im Verlauf der letzten zwölf Monate stark schwankte. Nach einem Anstieg der Industrieproduktion um gut 8 Prozent im Dezember 2024 war sie im Februar kaum noch höher als ein Jahr zuvor. Seit März zieht die jährliche Wachstumsrate aber an. Im April 2025 beschleunigte sich das Wachstum gegenüber dem Vorjahresmonat auf 1,5 Prozent, im Mai auf 1,8 Prozent.
Industrieproduktion
schwarze Linie: Veränderung gegenüber dem Vorjahresmonat in Prozent, blaue Säule: Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate in den letzten 12 Monaten

FocusEconomics: Russia Industrial production May 2025, 25.06.25
Aus den jährlichen Wachstumsraten der Industrie in den jeweils letzten 12 Monate hat FocusEconomics eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate errechnet (blaue Säulen). Sie ist seit rund einem Jahr fast stetig gesunken. Im Zeitraum Mai 2024 bis Mai 2025 erreichte der durchschnittliche Anstieg der Industrieproduktion im Vergleich zum Vorjahresmonat nur noch 2,9 Prozent. Im Jahresvergleich 2024/2023 war die Industrieproduktion noch um 4,6 Prozent gestiegen.
Rosstat: Industrieproduktion im Mai wieder auf Höchststand vom Dezember
Das Moskauer CMASF veröffentlichte am 26. Juni eine ausführliche Analyse der aktuellen Entwicklung der Industrieproduktion. Das Zentrum stellt fest, dass die Industrie im Mai einen „sprunghaften Anstieg“ der Produktion verzeichnete. Saison- und kalenderbereinigt sei sie um 2,6 % gegenüber dem Vormonat gestiegen. Einen noch stärkeren Anstieg habe das Statistikamt Rosstat nur im Juli 2020 während der Erholung der Produktion nach der COVID-Pandemie festgestellt.
Wie die rote Linie in der folgenden Abbildung zeigt, stieg der Index der gesamten Industrieproduktion nach Angaben von Rosstat wieder auf den Rekordstand, der im Dezember 2024 erreicht worden war (112,3).

Das CMASF selbst errechnete außerdem zwei weitere Indizes zur Entwicklung der Industrieproduktion:
einen Index der gesamten Industrieproduktion ohne „militärisch orientierte Industrien“ (untere braune Linie in der Abbildung)
und
einen Index der Produktion des „Verarbeitenden Gewerbes“ ohne die Rüstungsindustrien und ohne die Mineralölindustrie (blaue Linie in der Abbildung).
Zu den „Rüstungsindustrien“ zählt das CMASF in der Fußnote der Abbildung folgende Branchen: Die Produktion von Metallfertigprodukten (sofern sie nicht in anderen Industriezweigen enthalten ist); die Produktion von Computern, elektronischen und optischen Produkten; die Produktion von Flugzeugen; die Produktion von sonstigen Transportfahrzeugen (sofern sie nicht in anderen Industriezweigen enthalten ist).
Die Abbildung enthält außerdem einen Index der Higher School of Economics zur Entwicklung der gesamten Industrieproduktion (grüne Linie in der Abbildung).Wie der Rosstat-Index erreichte auch dieser HSE-Index im Mai wieder annähernd den Stand vom Dezember 2024.
CMASF: Die Rüstungsproduktion stellte zweit Drittel des Produktionsanstiegs
Das CMASF betont, dass es trotz des sprunghaften Anstiegs der Industrieproduktion noch zu früh sei, von einem „vollwertigen Wachstumstrend“ in der russischen Industrie zu sprechen. Es verweist auf die hohe Bedeutung der Steigerung der Rüstungsproduktion:
„Nach unseren Schätzungen sind etwa zwei Drittel des Anstiegs im Mai auf einen starken Produktionssprung in Sektoren zurückzuführen, in denen Rüstungsprodukte dominieren. Der verbleibende Teil des Anstiegs ist auf einen Produktionsanstieg in der Nichteisenmetallurgie zurückzuführen. In anderen Branchen veränderte sich die durchschnittliche Tagesproduktion im Mai im Allgemeinen nicht signifikant.“

