Zentralasien-Kolumne „Steppe Ahead“
Autor: Thorsten Gutmann

Im Norden Afghanistans entsteht ein Kanal, der das Machtgefüge Zentralasiens verändern könnte. Qosh Tepa, so der Name, zieht sich über fast 300 Kilometer durch die Provinzen Balkh, Jowzjan und Faryab. Gespeist wird er aus dem Amu Darya, jenem Strom, der aus den Gletschern des Pamir-Gebirges kommt, entlang der afghanischen Grenze fließt und für Usbekistan und Turkmenistan die wichtigste Lebensader ist. Kabul plant, bis zu ein Drittel seines Wassers in bislang unerschlossene Anbauflächen umzuleiten.
Ein Projekt mit Geschichte
Die Idee ist alt. Schon in der Sowjetunion gab es Pläne, Wasser aus dem Amu Darya nach Afghanistan zu leiten. Verwirklicht wurden sie nie. Heute setzt die Taliban-Regierung das Vorhaben entschlossener denn je um – als Beweis eigener Handlungsfähigkeit. Nach dem Verbot des Mohnanbaus soll der Kanal Arbeitsplätze schaffen, Exporte steigern und die Legitimität des Regimes festigen. Finanziert wird er aus Bergbaueinnahmen, auf den Baustellen arbeiten mehrere tausend Menschen.
Hoffnung und Risiko
Für Afghanistan ist Qosh Tepa Hoffnung. Für die Nachbarn bedeutet er Gefahr. Usbekistan müsste mit einem Rückgang seiner Wasserressourcen um 15 Prozent rechnen, Turkmenistan im schlimmsten Fall mit bis zu 80 Prozent. Schon jetzt erreicht der Amu Darya den Aralsee kaum noch. Der zusätzliche Aderlass könnte den ökologischen Kollaps besiegeln – mit versalzten Böden, Ernteausfällen und neuen Staubstürmen.
Fragile Technik, fragile Politik
Die Satellitenbilder sprechen eine deutliche Sprache: Lecks, ungesicherte Böschungen, Verdunstungsverluste von bis zu 40 Prozent. Effizienz sieht anders aus. Doch für die Taliban zählt der Symbolwert. Während Europa und die USA Dämme zurückbauen, um Flüsse zu renaturieren, setzt Kabul auf gigantische Umleitungen – und wiederholt Fehler, die Zentralasien schon einmal in die ökologische Sackgasse geführt haben.
Auch geopolitisch ist der Kanal brisant. Usbekistan hat Afghanistan offiziell das „Recht“ auf Nutzung eingeräumt, um Konfrontationen zu vermeiden. Doch hinter der Diplomatie wächst die Nervosität. Wasser ist in Zentralasien keine Nebensache, sondern nationale Sicherheit. Bevölkerungswachstum, Klimawandel und ausgereizte Bewässerungssysteme verschärfen den Druck.
Ein zweiter Aralsee?
Qosh Tepa könnte Afghanistans Norden fruchtbar machen – oder die nächste große Wasserkrise in Zentralasien auslösen. Entscheidend wird sein, ob moderne Bewässerungstechniken eingesetzt, regionale Regeln für die Verteilung geschaffen und ökologische Begleitmaßnahmen ernst genommen werden. Gelingt das nicht, droht der Kanal weniger ein Symbol des Aufbruchs zu werden, sondern ein Menetekel: ein zweiter Aralsee, diesmal im Namen des Aufbaus.