Autor: Dietrich Schartner


Von der Cloud zur Strategie: Wie Armenien im Schatten geopolitischer Umbrüche zum Hightech-Standort reift

Jerewan – Wer dieser Tage durch die „Engineering City“ von Armeniens Hauptstadt schlendert, begegnet nicht nur futuristischen Bauten und 3D-Druckern, sondern auch einem leisen, aber spürbaren Wandel. Armenien – lange geprägt von Abhängigkeiten im Energiesektor und geopolitischen Zwickmühlen – investiert massiv in die Digitalisierung. Zwischen künstlicher Intelligenz, Rechenzentren und E‑Government entfaltet sich ein Strukturwandel, der über wirtschaftliche Modernisierung hinausgeht. Die digitale Offensive könnte zum Hebel werden – für wirtschaftliche Resilienz, internationale Vernetzung und eine neue Rolle in der Region.

Firebird.ai und das Rennen um die Datenmacht

Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das Projekt Firebird.ai. Mitten in Jerewan entsteht bis 2026 eines der größten KI-Rechenzentren im Kaukasus: 100 Megawatt Leistung, entwickelt vom gleichnamigen US-Unternehmen unter Beteiligung internationaler Technologiepartner wie NVIDIA und Dell. Das Volumen: über 500 Millionen US-Dollar. Die armenische Regierung ist beteiligt – als Garant, als Förderer, als Partner in einem ambitionierten Ziel: Armenien zum KI-Knotenpunkt zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten zu machen.

Das Projekt ist mehr als nur technologische Infrastruktur. Es ist Ausdruck eines neuen Selbstverständnisses: Armenien will nicht länger bloßes Transitland oder Outsourcing-Ziel sein – sondern aktiver Spieler in einer Wissens- und Innovationsökonomie. „Firebird ist unser digitaler Batumi-Moment“, kommentierte ein Regierungsberater. Gemeint ist: ein strategischer Aufbruch, ähnlich dem wirtschaftlichen Öffnungssignal Georgiens vor über einem Jahrzehnt.

5G im Dorf, E‑Government im Amt

Parallel zum KI-Ausbau treibt Armenien die digitale Infrastruktur im Land voran. Der Telekommunikationsanbieter Ucom hat 2025 in Rekordzeit 5G-Netze in 48 Städten und hunderten Dörfern installiert – 94 % der Bevölkerung verfügen nun über Hochgeschwindigkeitsinternet. Auch im staatlichen Sektor schreitet die Transformation voran: Das E‑Government-Portal e-gov.am bündelt Behördengänge, von Steuerdokumenten bis zur Kfz-Zulassung. Digitale Register, E‑Justiz, elektronische Signaturen – längst Standard in vielen Bereichen.

Die EU ist dabei ein zentraler Partner. Über Programme wie EU4Digital und die neue wirtschaftliche Partnerschaft Resilience and Growth Plan fließen Mittel und Know-how nach Jerewan. E‑Government-Module, Breitbandkabel, Cybersicherheitsprojekte – Brüssel sieht Armenien als „digitale Brücke“ in der Region. Auch die Weltbank und die Europäische Investitionsbank unterstützen – zuletzt mit 100 Millionen Euro für Digitalisierung und KMU.

Start-up-Nation mit Tiefgang

Doch der digitale Wandel spielt sich nicht nur in Ministerien oder Konzernzentralen ab. Armenien hat in den letzten Jahren ein bemerkenswertes Start-up-Ökosystem aufgebaut. Über 1.250 Tech-Unternehmen, davon mehr als 500 mit eigenen Produkten, erwirtschaften rund 7 % des Bruttoinlandsprodukts. Die Exportquote liegt bei fast 90 %. Produkte reichen von Gaming-Engines bis zu Cloud-Sicherheitslösungen.

Programme wie TUMO Labs und das geplante Academic City-Projekt verbinden Bildung und Innovation. Die armenische Diaspora, besonders im Silicon Valley, fungiert als Brückenbauer: Investoren, Mentoren und ehemalige Gründer bringen Kapital und Expertise zurück. Und auch geopolitische Verschiebungen wirken nach – seit 2022 haben Hunderte IT-Firmen aus Russland Niederlassungen in Armenien eröffnet.

Ein neuer digitaler Dreiklang: EU, USA, China

Auffällig ist Armeniens Fähigkeit, trotz globaler Spannungen mit allen Seiten zu kooperieren. Mit den USA unterzeichnete die Regierung 2025 eine Innovationspartnerschaft im Halbleiter- und KI-Bereich. Gleichzeitig bindet sich Armenien in EU-Initiativen ein – etwa in den digitalen Binnenmarkt der Östlichen Partnerschaft.

Und selbst China wurde 2025 als digitaler Partner gewonnen: Im Rahmen der „Digital Silk Road“ wird über Smart-City-Projekte und Rechenzentren verhandelt.

Zwar ist Armenien weiterhin Mitglied der von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) – doch in der Digitalpolitik verfolgt die Regierung klar westliche Standards. Datenschutzgesetze, digitale Identitäten, Cybersicherheitsstrategien orientieren sich zunehmend an europäischen Normen.

Digitalisierung als geopolitischer Fluchtpunkt?

Der digitale Umbau Armeniens ist mehr als ein technologischer Kraftakt. Er ist Teil einer bewussten geopolitischen Ausrichtung: wirtschaftlich offen, technologisch souverän, sicherheitspolitisch ausbalanciert. In einer Region, in der Grenzen verschoben und Abhängigkeiten instrumentalisiert werden, ist die Cloud vielleicht das letzte freie Terrain.

Ministerpräsident Pashinyan nannte Digitalisierung jüngst „eine Frage strategischer Selbstbestimmung“. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob Armenien aus der Nische heraus die eigene Zukunft digital neu schreiben kann – oder ob die alten Abhängigkeiten in neuem Gewand zurückkehren.

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