Arktis-Experte Lukas Wahden spricht im Interview über die russische Arktis-Strategie 2035, Kooperation und Konfrontation im „ewigen Eis“, und die Gefahren des Klimawandels.
Russland hat vor fünf Jahren eine Arktis-Strategie bis 2035 beschlossen. Was steht drin, was hat Moskau erreicht, und was hat sich seitdem verändert?
Die russische Regierung veröffentlicht solche Strategiepapiere seit 2001. Die letzte vollwertige Fassung stammt von 2020 und deckt den Zeitraum bis 2035 ab. Schon damals ging es um Souveränität, Ressourcennutzung, wirtschaftliche Entwicklung – vor allem im Energiesektor –, militärische Sicherheit und Schutz kritischer Infrastruktur. Gleichzeitig bekannte sich die Version von 2020 ausdrücklich zum Arktischen Rat und zum Multilateralismus, „sofern er russischen Interessen dient“.
Nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine 2022 gab es jedoch Änderungen: die Meeresdoktrin 2022, das jüngste außenpolitische Konzept und – besonders wichtig – die Aktualisierung der Arktis-Strategie von 2023. Darin wurden alle Verweise auf den Arktischen Rat gestrichen. Stattdessen heißt es, Russland solle bilaterale Beziehungen mit „freundlichen Staaten“ vertiefen. Die NATO- und übrigen Arktisstaaten werden offen als Bedrohung der russischen Position bezeichnet, deren Einfluss es „zu neutralisieren“ gelte.
Dazu kommen zwei weitere Akzente. Erstens: technologische Unabhängigkeit von Westen und Sanktionen. Zweitens: Klimawandel wird nicht mehr als Risiko beschrieben, sondern fast ausschließlich als Chance für Ressourcenausbeutung. Kurz: Die Tonlage ist heute viel konfrontativer: Die Arktis gilt als möglicher Konfliktraum, in dem nationale Interessen, notfalls mit Waffengewalt, verteidigt werden.
Der Arktische Rat war einst der Inbegriff für Kooperation. Wie steht es um dieses Forum?
Schwer angeschlagen, aber nicht ganz tot. Im März 2022 erklärten alle westlichen Mitglieder – also die USA, Kanada, Dänemark, Island, Norwegen, Schweden und Finnland –, sie würden ihre Teilnahme „bis auf Weiteres“ aussetzen. Forschungsvorhaben wurden eingefroren, die Nördliche Dimension, der Euro-Arktische Barents-Rat und der Rat der Ostsee-Anrainerstaaten suspendierten Russland. Selbst der Internationale Rat für Meeresforschung schloss Moskau aus.
Norwegen, das im Frühjahr 2023 turnusgemäß den Ratsvorsitz des Arktischen Rats von Russland übernahm, war viel gelegen an einer reibungslosen Staffelübergabe, um die Institution nicht sterben zu lassen. Seitdem tagen die Arbeitsgruppen allerdings nahezu ausschließlich ohne russische Vertreter. Ministertreffen finden nicht mehr statt und der wissenschaftliche Austausch bleibt marginal. Wie es nun, da Norwegen den Staffelstab im Mai an Dänemark und Grönland abgegeben hat, weitergeht, ist noch völlig offen.
Parallel macht eine andere Meldung Schlagzeilen: Donald Trump will Grönland kaufen. Was steckt dahinter, und wie blickt Moskau darauf?
Geografisch gehört Grönland zum nordamerikanischen Kontinent und war schon im Kalten Krieg Teil der Distant Early Warning Line – der Radarkette gegen sowjetische Bomber. Die USA haben insgesamt viermal versucht, die Insel Dänemark abzukaufen: einmal im 19. und dreimal im 20. Jahrhundert.
Trumps jüngstes Interesse geht auf Gespräche mit Senator Tom Cotton und einem Geologen von 2019 zurück: Grönland verfüge über bedeutende Vorkommen seltener Erden, die für Zukunftsindustrien essenziell seien. Trump fasste den Plan, die Insel dem Königreich abzukaufen. Dänemark wie Grönland lehnten ab, aber die Idee blieb – heute ergänzt um Sicherheitsargumente.
Russland selbst hat strategisch wenig Interesse an Grönland. Für den Kreml wäre ein völkerrechtswidriger US-Zug jedoch ein willkommener Präzedenzfall: Wenn der „liberale Hegemon“ internationales Recht bricht, warum sollte man Moskau Vorwürfe machen? Entsprechend zurückhaltend, aber auch süffisant, fallen die russischen Kommentare aus.
Mitte März hieß es plötzlich, USA und Russland besprächen in Saudi-Arabien gemeinsame Öl- und Gasprojekte in der Arktis. Ist das eine echte Option?
Diese Gespräche gehen auf Kirill Dmitriew zurück, Chef des Russian Direct Investment Fund. Angeblich wollen beide Seiten Sanktionen lockern und US-Technologien für russische LNG-Projekte zulassen. Doch unabhängige Rohstoffexperten sind skeptisch. Die USA und Russland konkurrieren auf dem globalen LNG-Markt; zugleich sind fast alle fortgeschrittenen Anlagen in sibirischen Projekten Ziel westlicher Sanktionen.
Bleiben wir bei Arktis-Partnerschaften. Seit 2014 ist China der größte ausländische Investor in Russlands Arktis. Ist das eine strategische Allianz?
Eher eine Zweckgemeinschaft. Russland blockierte Chinas Ambitionen zunächst – bis es 2013 der chinesischen Aufnahme als Beobachter im Arktischen Rat zustimmte. Hintergrund: Energiekonzerne wie Rosneft wollten den chinesischen Markt erschließen. Nach der Krim-Annexion stiegen chinesische Unternehmen in zwei große LNG-Vorhaben ein und sicherten sich Anteile an Hafenausbauprojekten entlang der Nordostpassage.
Doch das Verhältnis ist keineswegs grenzenlos. Moskau fürchtet das wachsende Machtgefälle. Peking zögert bei neuen Engagements, um nicht selbst von US- oder EU-Sanktionen getroffen zu werden. Dazu kommt: Die Gas-Pipeline „Kraft Sibiriens 1“ deckt Chinas Importbedarf aus Russland bereits gut ab, sodass eine weitere Pipeline „Kraft Sibiriens 2“ bislang nicht finanziert wurde.
Beide Partner schauen sich also um: Russland wirbt bei Indien, Vietnam, den Emiraten und China wünscht sich Forschungs- und Geschäftsmöglichkeiten in allen acht Arktisstaaten, versperrt sich jedoch viele Türen, solange es einseitig auf Moskau setzt.
Wie groß ist die wirtschaftliche Bedeutung der Arktis für Russland in Zahlen?
2022 kamen bereits 80% des russischen Erdgases und 17% des Öls aus der Arktis. Dort leben nur 1,5% der Bevölkerung, erwirtschaftet werden aber 15 – 20% des russischen BIP. Geologen schätzen, dass im arktischen Festlandsockel noch über 85 Billionen m³ Erdgas sowie knapp 20 Milliarden Tonnen Erdöl unerschlossen lagern – rund 70% der verbliebenen russischen Vorräte.
Nimmt man das Förderniveau von 2018 als Basis, strebt Moskau bis 2030 an:
- Erdgas auf heutigem Hoch zu halten
- Rohöl um 35% zu steigern
- Flüssigerdgas (LNG) plus 611%
- Frachtaufkommen auf der Nordostpassage um 200% zu erhöhen
Möglich machen sollen das neuen Häfen, Flugplätze und Güterbahnen. Doch die Pipelines zeigen fast alle Richtung Westeuropa und liegen brach. Neue Leitungen gen Indien oder China wären extrem teuer. Die Rechnung geht nur auf, wenn Investoren einsteigen, Technologie verfügbar wird und die Energiewende die Nachfrage nach fossilen Energieträgern nicht zu schnell abwürgt. Momentan scheint dies eher unwahrscheinlich.
Ohne Klimawandel gäbe es weder eine fast eisfreie Nordostpassage noch den heutigen Rohstoffboom. Wie steht es um Risiken und Chancen?
Die Arktis erwärmt sich viermal schneller als der globale Durchschnitt. Das Packeis schrumpft: 2023 erreichte es erneut ein Rekordtief. Der Permafrost taut, das Grönland-Eisschild schmilzt. Möglichkeiten ergeben sich durch die steigenden Temperaturen in drei Feldern: Zwischen Shanghai und Rotterdam spart die Nordostpassage 30 – 40% der Fahrstrecke. Für Russland sind Passagegebühren eine Goldgrube. Für China ist es die einzige Verbindung Atlantik-Pazifik, die nicht von der US-Marine dominiert wird. Seltene Erden, Kupfer, Nickel, Rohdiamanten, aber auch Öl und Gas lassen sich technisch leichter erreichen. Außerdem wandern Tourismus und Servicewirtschaft nach Norden.
Dem stehen aber gewaltige Risiken gegenüber. Aufreißende Permafrostböden bedrohen Straßen und Pipelines. Freischwimmende Eisschollen können den Schiffsverkehr gefährlicher machen, statt einfacher. Und: Der globale Meeresspiegel steigt, was für tiefliegende Staaten weltweit existenzielle Fragen aufwirft. Internationale Kooperation wäre deshalb essentiell – für Klimaforschung, Umweltstandards, Notfallmanagement – doch genau sie bricht gerade weg.
Zum Schluss: Wenn Sie eine Prognose wagen – wird die Arktis Friedenszone oder Frontlinie?
Solange der Ukraine-Krieg andauert, bleibt jede multilaterale Agenda in der Warteschleife. Selbst nach einem Waffenstillstand müsste Washington entscheiden, ob es sich mit Moskau in der Arktis einlässt – und damit die Einheit der NATO riskiert – oder an der bisherigen Sanktionsarchitektur festhält. Parallel wird China alles tun, um seinen Fuß in der Tür zu behalten.
Wenn die Arktis weiter nur als Schatzkammer gesehen wird, setzt sich die Konfrontation durch. Wird sie als gemeinsames Labor für Klima- und Sicherheitspolitik begriffen, hat Kooperation eine Chance. Gegenwärtig überwiegen leider die Rüstungs- und Infrastrukturpläne. Aber die Geschichte überrascht: Vor Gorbatschows Murmansk-Rede 1987 glaubte auch niemand an einen entmilitarisierten Pol, und doch entstand der Arktische Rat.
Dieses Interview ist eine redigierte Version des Originalgesprächs, das Sie im Podcast der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer hören können.

