Ben Aris, Gründer der Berliner Wirtschaftsplattform bne IntelliNews, gilt als einer der schärfsten Beobachter der russischen Wirtschaft. Im Interview erklärt er, weshalb Russlands Wirtschaft trotz 21 Prozent Leitzins wächst und warum die Rückkehr westlicher Firmen auf den russischen Markt sich als schwierig gestaltet.
Ostwirtschaft: Ben Aris, es gibt Gerüchte, dass westliche Konzerne nach Russland zurückkommen wollen. Gibt es schon konkrete Signale aus dem Kreml, wie eine Rückkehr westlicher Firmen aussehen könnte?
Ben Aris: Ja, das Stichwort in Moskau lautet „kontrollierte Rückkehr“. Die Regierung signalisiert: Wir lassen euch rein, aber zu russischen Bedingungen. Bestes Beispiel ist Renault. Der Konzern stieg 2022 bei AvtoVAZ aus und verkaufte seinen Anteil für symbolische zwei Rubel. Heute sagt AvtoVAZ-Chef Sokolow: Wenn Renault zurück will, kostet das 1,3 Milliarden Dollar Entschädigung für Investitionen, die Russland seitdem stemmen musste.
Ostwirtschaft: Welche westlichen Marken haben überhaupt realistische Chancen, schnell wieder Fuß zu fassen?
Ben Aris: Alles, was schon vorher stark lokalisiert war: Handel, Lebensmittel, Konsumgüter. Viele Händler haben nie ganz aufgegeben, sie arbeiten einfach über Franchise-Strukturen in der Türkei oder Kasachstan. Schwieriger wird es für Automobilhersteller: Fabriken sind in russische Hände übergegangen, der Markt ist mit chinesischen Modellen geflutet. Wer zurückkehren will, muss wohl neue Werke bauen und seine Marke neu positionieren.
Ostwirtschaft: Nun kursiert das Szenario, dass die USA Deals mit Russland abschließen, während Europa an Sanktionen festhält. Was passiert, wenn amerikanische Unternehmen in Russland Geld verdienen und europäische nicht?
Ben Aris: Dann gerät Europas Wettbewerbsfähigkeit massiv unter Druck. Billige russische Energie und strategische Metalle würden in die USA fließen, Europa ginge leer aus. Politisch ist ein Kurswechsel in der EU kaum vermittelbar – aber ökonomisch steigt der Schmerz. Wenn im nächsten Winter Gas knapp wird, könnte der Ruf nach einem Pragmatismus-Schwenk lauter werden, etwa ein Wiederanlaufen von Nord Stream. Gegenwärtig ist das noch Tabu, aber ökonomische Zwänge brechen Tabus schneller, als man denkt.
Ostwirtschaft: Im Russland wünschen sich manche Industrielle, dass Sanktionen als „Schutzmauer“ erhalten bleiben. Wie stark ist dieser Flügel?
Ben Aris: Er hat Gewicht. Sanktionen wirken wie Importzölle: Sie schützen aufstrebende Branchen, sichern Margen und halten Oligarchengeld im Land. Viele Manager profitieren davon. Trotzdem überwiegt im Kreml das Kalkül, westliche Technologie und Kapital zurückzuholen – nur eben nach russischen Spielregeln.
Ostwirtschaft: 2024 wuchs das russische BIP laut Rosstat um 4,1 Prozent. Wie ist das möglich?
Ben Aris: Es ist eine Kombination aus Exportumlenkung und Staatsausgaben. Russland hat seine Öl- und Gasströme in Rekordzeit von Europa nach Asien verlegt. Parallel pumpt der Kreml enorme Mittel in Rüstungsproduktion und Sozialprogramme. Fabriken in Tula oder Uljanowsk laufen im Drei-Schicht-Betrieb, Löhne steigen zweistellig, vor allem in armen Regionen. Das Geld landet direkt im Einzelhandel – die Kauflaune ist spürbar.
Ostwirtschaft: Beobachter verweisen auf 21 Prozent Leitzins. Bremsen solche Zinshöhen nicht jedes Investitionsvorhaben?
Ben Aris: Klassische Geldpolitik greift hier nur begrenzt. Die Inflation kommt nicht von überdrehtem Privatkonsum, sondern vom staatlichen Geldzufluss. Darum setzt die Zentralbank auf andere Hebel: Förderhypotheken werden gestoppt, Verbraucherkredite gedrosselt, staatliche Garantien für Unternehmenskredite eingefroren. Bemerkenswert ist aber: Der Anteil fauler Kredite verharrt bei rund vier Prozent und steigt nicht.
Ostwirtschaft: SIPRI, das renommierte Stockholmer Friedensinstitut, taxiert die Verteidigungsausgaben auf gut sieben Prozent des BIP. Ist das nachhaltig?
Ben Aris: Kriegsbedingt ja. Offiziell sind es 7,5 Prozent des BIP in diesem Jahr. Putin achtet jedoch darauf, dass ein Drittel der Zusatzgelder in zivile Projekte fließt – Wohnungsbau, Straßen, Kindergärten. Damit will man vermeiden, dass nach dem Krieg ein überdimensionierter Rüstungssektor übrigbleibt, der sich nicht zurückbauen lässt.
Ostwirtschaft: Und 2025? Gibt es eine Stagnation oder weiteres Wachstum?
Ben Aris: Die Regierungsprognose liegt bei 2,5 Prozent BIP-Wachstum. Entscheidend wird, ob die Importsubstitution wirklich zündet. Bei Konsumgütern klappt das: Stichwort „Sibirischer Camembert“. Bei High-Tech, etwa Mikrochips, bleibt Russland weit zurück. Je schneller chinesische oder russische Lösungen marktreif werden, desto besser die Wachstumschancen. Klappt das nicht, droht eine Kapazitätsgrenze und damit Stagnation.
Das Interview erschien zuerst im Podcast der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer „Zaren. Daten. Fakten.“ in englischer Sprache.

