Autor: Jonas Prien


Noch vor wenigen Jahrzehnten war sie vor allem ein Thema für Polarforscher und maritime Visionäre: die Nordostpassage. Der Seeweg führt von der Nordsee entlang des Europäischen Nordmeeres, passiert die norwegische Küste, verläuft entlang der russischen Arktis und erreicht schließlich über die Beringstraße den Pazifik. Mit rund 6.500 Kilometern Länge gilt die Route vielen Experten als potenzielle Schlüsselstrecke des globalen Handels. Kürzere Verbindungen bedeuten geringere Transportzeiten, niedrigere Kosten und weniger Emissionen. Aufgrund des rasanten Rückgangs der Eisflächen rückt die Passage inzwischen stärker in den Bereich des Möglichen.

Doch bislang bleibt die tatsächliche Nutzung deutlich hinter den Erwartungen zurück. Trotz steigender Schifffahrtsaktivitäten in der Arktis spielt die Route im internationalen Handel weiterhin nur eine untergeordnete Rolle. Bisher dominieren Rohstoff- und Energietransporte in begrenztem Umfang, nicht das Containeraufkommen des globalen Mainstreams.

Legende: Cargo (Grün), Tanker (rot), Passagier (blau), Fischerei (Orange) (Quelle: Marine Traffic)

Das liegt nicht nur an den nach wie vor schwierigen Wetter- und Eisbedingungen. Die Region ist geopolitisch sensibel und kommerziell anspruchsvoll. Die Passage durch russische Hoheitsgewässer erfordert spezielle Genehmigungen, Versicherer agieren aufgrund der Risiken zurückhaltend und die Infrastruktur entlang der Strecke ist noch immer schwach ausgeprägt. Die Nordostpassage ist deshalb weniger eine sichere Alternative als vielmehr ein Versprechen als zukünftige Option.

Eine Vergleichsstudie zwischen den Häfen Rotterdam und Shanghai unterstreicht dies. Untersucht wurden Distanz, Geschwindigkeit, Wartezeiten und Treibstoffverbrauch. Das Ergebnis ist ein Transportindex, der umso günstiger ist, je näher er bei eins liegt. Die Route über den Suezkanal erzielt den besten Wert (1,16), gefolgt vom Umweg über das Horn von Afrika (1,34). Aufgrund der längeren Strecke liegt die Passage durch den Panamakanal nur auf Rang drei (1,50). Schlusslicht bleibt die nördliche Arktisroute (1,60).

(Quelle: “Comparative Studies of Major Sea Routes”, Vytautas Paulauskas)

Doch dieser Befund ist nur eine Momentaufnahme. Das Abschmelzen der Eismassen, verbesserte Navigationstechnologien, sinkende Versicherungskosten und wachsende Nutzbarkeit könnten die Attraktivität der Nordroute künftig deutlich erhöhen. Zudem belebt der intensive Handel zwischen China und Russland bereits heute die Aktivität entlang der Strecke.

Hinzu kommt die Erfahrung mit disruptiven Ereignissen: Die Havarie der „Ever Given“ im Suezkanal 2021 hat gezeigt, wie anfällig etablierte Seewege sind. Eine temporäre Sperrung zentraler Schifffahrtsrouten hätte dramatische Folgen für den Welthandel. Reedereien suchen daher zunehmend nach Alternativen, um das Risiko besser zu verteilen.

Damit entsteht ein Spannungsfeld zwischen ökonomischer Hoffnung und realer Unsicherheit. Noch ist die Nordostpassage eher Symbol für globale Veränderungen zwischen Klimawandel und geopolitischen Interessen, zwischen technologischem Fortschritt und rohstoffpolitischen Strategien.

Entscheidend wird sein, wie sich die Kräfteverhältnisse weiter verschieben: Wie schnell zieht sich das Eis zurück? Wie konsequent setzen Staaten auf De-Risking? Und wie stark wird in Infrastruktur etwa im Bereich Kommunikation und Eisbrecher investiert? Die Nordostpassage bleibt eine große Chance für den globalen Handel.

Related Post