Autor: Jonas Prien, Podcast-Host: „Türk it Easy“

Wenn heute von deutsch-türkischen Beziehungen die Rede ist, fallen meist dieselben
Begriffe: Gastarbeiter, Migration, Erdoğan. Doch die Geschichte der Verflechtungen reicht
viel weiter zurück – und ist weit reicher, komplexer und auch widersprüchlicher als das Bild,
das in der Öffentlichkeit dominiert.
„Deutschland hat in der Türkei Spuren hinterlassen, lange bevor die ersten Türken nach
Deutschland kamen“, sagt Rasim Marz, Politikwissenschaftler und Kenner der osmanisch-preußischen Geschichte. In zahlreichen Publikationen hat er auf bislang wenig beachtete
Episoden der deutsch-türkischen Historie aufmerksam gemacht. Im Podcast Türk It Easy
spricht er über eine Geschichte voller überraschender Allianz, kultureller Transfers und
ambivalenter Einflüsse.
Kreuz und Halbmond für Kunst und Handel?
Trotz zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen Europa und dem Osmanischen Reich zeigt
die Geschichte der frühen Neuzeit ein gemischtes Bild. „Die Vorstellung eines durchgehend
feindlichen Gegensatzes zwischen christlichem Europa und dem islamischen Osmanischen
Reich ist historisch falsch. Sie ist das Produkt späterer ideologischer Überformungen“, erklärt
Rasim Marz. So gingen im 16. Jahrhundert etwa Frankreich und das Osmanische Reich ein
bemerkenswertes Bündnis gegen die Habsburger ein – ein Bündnis zwischen Kreuz und
Halbmond. Auch mit Venedig, Genua und anderen Handelsmächten pflegte das Osmanische
Reich intensive ökonomische Beziehungen. „Die Osmanen handelten mit ihren Gegnern
selbst während laufender Kriege“, so Marz, „sie waren pragmatische Akteure – ‚Homo
economicus‘ im besten Sinne.“ Auch die andere Seite fand zunehmend Interesse am Orient.
“Es gibt spätestens seit der zweiten Wiener Belagerung 1683 ein Faible der europäischen
Oberschicht am Orient.” Viele deutsche Fürsten begannen in dieser Zeit im Zuge der
Turkomanie und dem Aufkommen der Orientalistik, Artefakte wie etwa wertvolle Waffen
oder auch Kunstgegenstände zu sammeln. Dies belegen Museen in Dresden, Karlsruhe und
Süddeutschland.
Ein preußischer General als Architekt von Atatürks Armee
Ein anderes Beispiel für den gegenseitigen Einfluss ist die Rolle des deutschen Generals
Colmar von der Goltz, der ab den 1880er Jahren die osmanische Armee reformierte. „Goltz
Pascha“, wie er genannt wurde, lebte fast 25 Jahre in Istanbul und prägte die osmanische
Militärschule entscheidend mit. „Was viele nicht wissen: Mustafa Kemal Atatürk wurde in
einer Armee ausgebildet, die nach preußischem Vorbild umgestaltet worden war“, betont
Marz. Die militärischen Neuerungen durch von der Goltz hatten letztlich maßgeblichen Anteil
am Erfolg Kemal Atatürks in den Kämpfen um die Unabhängigkeit der Türkei zwischen 1919
und 1923. Die junge türkische Republik trägt also auch ein deutsches Erbe.
Ein Kaiser auf Orientreise
Auch der Besuch Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1898 ist mehr als eine diplomatische Anekdote.
„Der Kaiser wollte den Sultan als Verbündeten im politischen Ringen gegen England und
Russland gewinnen“, so Marz. Als Zeichen der Freundschaft ließ Wilhelm den Deutschen
Brunnen zum Fuße der Hagia Sophia bauen und pries den Sultan als „Freund aller Muslime“.
Diese Orientpolitik war nicht nur imperial, sondern auch ideologisch, denn Deutschland
versuchte, über den Panislamismus Einfluss im Osmanischen Reich und darüber hinaus zu
gewinnen.
Muslimische Kriegsgefangene als Bündnispartner
Der Erste Weltkrieg brachte eine weitere wenig bekannte Facette ans Licht: In deutschen
Kriegsgefangenenlagern wurden muslimische Soldaten aus kolonialen Armeen interniert –
Algerier, Inder, Tunesier. In Wünsdorf bei Berlin errichtete das Deutsche Reich sogar eine
eigene Moschee für sie. Ziel war es, diese Männer für den Dschihad gegen die Ententemächte zu gewinnen. „Ein perfides Spiel mit religiöser Identität“, urteilt Marz. Die Idee: Wer
gegen die Kolonialmächte kämpft, kämpft auch für Deutschlands Sache.
Kontinuitäten in der Kulturpolitik
Die kulturellen Beziehungen waren ebenfalls tiefgreifend – und oft widersprüchlich. Schon
im 19. Jahrhundert studierten osmanische Eliten an deutschen Universitäten. Im Gegenzug
kamen deutsche Archäologen, Architekten und Ingenieure ins Osmanische Reich. Der Bau
der Bagdadbahn mit deutscher Technik und Planung war nicht nur ein wirtschaftliches
Großprojekt, sondern auch ein geopolitisches Signal. Berlin strebte so nach einem direkten
Zugang zum Persischen Golf. „Die Türkei wurde lange als eine Art deutsches Labor
betrachtet – technokratisch, militärisch, kulturell“, so Marz. Dass viele dieser Projekte eine
ambivalente Wirkung hatten, sei in der Rückschau unübersehbar.
Nationalsozialisten in der Türkei – und türkische Nationalisten in Berlin
Ein besonders dunkles Kapitel beginnt in den 1930er Jahren. Nach der Machtübernahme der
Nationalsozialisten flohen zahlreiche jüdische und linke Intellektuelle aus Deutschland in die
Türkei, darunter der Architekt Bruno Taut, der Ökonom Alexander Rüstow und der spätere
Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter. Die Türkei profitierte von ihrem Wissen – „aber
viele mussten nach dem Krieg trotzdem weiterziehen, weil die Türkei ihnen gegenüber
misstrauisch blieb“, erklärt Marz.
Weniger bekannt ist, dass zur gleichen Zeit türkische Nationalisten in Berlin Sympathie für
die neue deutsche Ideologie zeigten. In bestimmten Kreisen der kemalistischen Elite stieß die
NS-Rassenlehre auf verstörende Faszination. Es entstanden ideologische Brückenschläge, die
bis heute kaum aufgearbeitet sind.
Die Türkei als Projektionsfläche
Die deutsch-türkische Geschichte, so Marz, ist nie nur eine Geschichte zweier Staaten,
sondern ein Kaleidoskop überraschender Allianzen, kulturellem Transfer und ambivalenten
Einflüssen. In vielem war die Türkei für Deutschland das, was der Orient für Europa oft war:
ein Spiegel der eigenen Sehnsüchte, Ängste und Machtfantasien. Heute, in Zeiten hitziger
Migrationsdebatten und wachsender Ressentiments, ist das Wissen um diese vielschichtige
Vergangenheit mehr als nur historisches Detailwissen. „Wir können die Gegenwart nicht
verstehen, wenn wir die Tiefenschichten unserer Beziehungen ignorieren“, sagt Marz. “Wir
sollten nicht vergessen, dass die Geschichten unserer Länder schon lange miteinander
verflochten sind: Man muss nur genau hinschauen.“
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