Kasachstans Präsident Kassym-Jomart Tokajew hat ein ehrgeiziges Ziel ausgerufen: Innerhalb von drei Jahren soll sein Land zu einer vollständig digitalen Nation werden. Die Wirtschaft soll modernisiert, die Verwaltung verschlankt, der Alltag der Bürger effizienter werden.
Offiziell klingt das nach Erfolg: Laut Regierungsangaben sind inzwischen 92 Prozent der öffentlichen Dienstleistungen online verfügbar. Milliarden Tenge seien aus der Schattenwirtschaft geholt, Verwaltungskosten gesenkt worden. Digitale Reformen sollen den Staat transparenter gemacht haben, heißt es.
Doch hinter der Vision einer „digitalen Zukunft“ verbirgt sich eine andere Realität: der Aufbau einer umfassenden Überwachungsinfrastruktur – und die Frage, ob Kasachstan auf dem Weg in die digitale Moderne nicht vielmehr einem autoritären Vorbild folgt.
Digitale Strategie oder Datenkontrolle
Tokajews Regierung investiert Milliarden in künstliche Intelligenz, Blockchain, Supercomputer und E-Government. Die Projekte reichen von einem nationalen KI-Labor über kasachischsprachige Großsprachenmodelle bis zu einer geplanten Digitalwährung, dem „digitalen Tenge“.
Doch viele dieser Initiativen beruhen auf der Zentralisierung sensibler Bürgerdaten. Das Land schafft die Infrastruktur für ein gigantisches Datenerfassungsnetz – mit staatlicher Kontrolle im Zentrum.
Ein Land unter Kameras
Tausende Kameras mit Gesichtserkennung sind bereits installiert, offiziell für „intelligente Polizeiarbeit“. In Almaty allein sind über 128.000 Kameras aktiv. Firmen wie Target AI liefern die Systeme, wissen aber nach eigenen Angaben oft selbst nicht, wie die Behörden die Technik einsetzen.
Smart-City-Projekte wie Sergek oder Smart Aqkol verbinden Überwachungskameras, Polizeiterminals und Kommandozentralen in Echtzeit. Recherchen zeigen: Die Technik stammt häufig aus China – von Firmen wie Dahua, Hikvision oder Huawei, die auch in anderen autoritär regierten Staaten aktiv sind.
Das Innenministerium versichert, die Daten seien „innerhalb eines geschlossenen Kreislaufs geschützt“. Doch unabhängige Forscher widersprechen: Systeme dieser Art seien per Design auf Überwachung ausgelegt.
Die chinesische Handschrift
Kasachstans digitale Infrastruktur ist eng mit Chinas „Digitaler Seidenstraße“ verflochten. Nach Recherchen von Coda Story und InterSecLab nutzt das Land seit Jahren chinesische Netzwerktechnik zur Internetüberwachung – offenbar nach dem Vorbild der „Great Firewall“.

Der chinesische Präsident Xi Jinping (links) und sein kasachischer Amtskollege Kassym-Jomart Tokajew sind überzeugt, dass die digitale Seidenstraße nur Gutes bringen wird. Datenschützer sind sich da nicht so sicher (Quelle: kasachisches Präsidialamt).
Dokumente aus 2024 zeigen, dass Komponenten chinesischer Firmen in landesweiten Projekten wie dem „Cybershield of Kazakhstan“ eingesetzt werden. Offizielle Stellen wiesen die Berichte als „nicht realitätsgetreu“ zurück.
Die Analystin Marla Rivera von InterSecLab nennt das System „eine Macht, die kein Staat haben sollte – das ist sehr beängstigend“.
Westliche Firmen mischen mit
Auch Unternehmen aus Europa und dem Nahen Osten sichern sich Anteile am wachsenden Überwachungsmarkt. Axis Communications (Schweden), Hanwha Vision (Südkorea) und Presight AI aus den Vereinigten Arabischen Emiraten liefern Technologie für Smart-City-Projekte. Presight soll in Astana 22.000 neue Kameras installieren – als Ersatz für das bestehende Sergek-System.
Parallel entsteht eine nationale biometrische Plattform: Banken, Telekom-Anbieter und Behörden erfassen Gesichter und Fingerabdrücke. Seit August 2024 dürfen Kredite nur noch nach biometrischer Verifikation vergeben werden.

Die Sorge besteht darin, dass die digitalen Staaten der Zukunft KI-basierte Befugnisse erhalten, die niemand haben sollte (Quelle: bne IntelliNews).
Kritiker warnen: Ohne klare Datenschutzgesetze öffnet das Tür und Tor für Missbrauch. Der Cybercrime-Experte David Sehyeon Baek spricht von der Gefahr einer „totalen finanziellen Transparenz“.
Das Trauma des „Blutigen Januars“
Der Ausbau der Überwachung beschleunigte sich nach den Protesten im Januar 2022, bei denen über 230 Menschen starben. Tokajew kündigte daraufhin an, die Zahl der Kameras drastisch zu erhöhen – offiziell zur „Sicherung der öffentlichen Ordnung“.

Es gibt Behauptungen, dass während des „Blutigen Januars“, der großen sozialen Unruhen und Gewalt im Jahr 2022, 7.000 Menschen auf der Grundlage von Daten festgenommen wurden, die von Straßenüberwachungskameras gesammelt wurden (Quelle: Nachrichtenagentur Fars).
Menschenrechtsanwälte berichten dagegen, dass tausende Festnahmen auf Daten aus chinesischen Kamerasystemen zurückgingen. Laut Coda Story waren chinesische KI-Experten direkt an der Identifizierung von Demonstranten beteiligt.
Ein digitaler Staat mit analogen Problemen
Während Kasachstan Milliarden in KI und Kameras steckt, bleibt die Basis brüchig. Große Teile des Landes leiden unter instabiler Stromversorgung, veralteter Infrastruktur und schwachem Internet. Laut Ookla-Ranking liegt Kasachstan bei der mobilen Internetgeschwindigkeit weltweit nur auf Platz 45, beim Festnetz auf Rang 84.
Die Soziologin Oyuna Baldakova vom King’s College London zweifelt deshalb, dass Tokajews Vision realistisch ist: „Ein vollständig digitaler Staat setzt ein stabiles Netz und gleiche Zugänge voraus – beides hat Kasachstan nicht.“
Kasachstan steht an einer Weggabelung: zwischen digitaler Modernisierung und digitalem Autoritarismus.
Tokajews Vision einer „smarten Nation“ könnte das Land zum Vorreiter Zentralasiens machen – oder zu einem Labor für Überwachungstechnologie.
Dieser Artikel entstand in Kooperation mit unserem Partner bne intelliNews

