Autor: Klaus Dormann
Zur Dämpfung des Preisauftriebs in der überhitzten russischen Kriegskonjunktur hatte die russische Zentralbank ihren Leitzins im Oktober 2024 auf einen langjährigen Höchststand von 21 Prozent erhöht. Trotz deutlicher Kritik von Wirtschaftsvertretern und Politikern hielt sie bisher daran fest. Am 6. Juni senkte sie für viele überraschend den Leitzins jedoch auf 20 Prozent (TradingEconomics). Bei einer Analysten-Umfrage der Wirtschaftszeitung Wedomosti hatten knapp zwei Drittel der Teilnehmer mit keiner Senkung gerechnet.

CNBC: Russia lowers interest rates to 20% in first cut since 2022 as inflation pressures ease, 06.06.25
Forderungen aus Politik und Wirtschaft nach Zinssenkung
Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow hatte die Zentralbank vor dem Leitzinsentscheid zu einer Senkung der Zinsen aufgefordert: „Wir setzen auf eine rechtzeitige Lockerung der Geldpolitik“. So solle das Wachstumsziel der Regierung von drei Prozent in Zukunft weiterhin verfolgt werden können. Der Wirtschaftsminister wies darauf hin, dass immer mehr Industriezweige einen Produktionsrückgang verzeichnen. Gleichzeitig verlangsame sich auch die Wachstumsrate der Verbrauchernachfrage.
Von Reuters Ende Mai befragte Analysten erwarten, dass sich Russlands Wirtschaftswachstum in diesem Jahr auf 1,5 Prozent abschwächen wird. 2024 hatte es sich auf 4,3 Prozent beschleunigt. Die Regierung erwartet 2025 noch 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum (FAZ, Reuters).
Der Präsident der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer (RSPP), Alexander Schochin, hatte vor dem Leitzinsentscheid in einem TASS-Interview erklärt, die Unternehmer hofften, dass der Zinssatz gesenkt werde. Er meinte, sogar eine „symbolische Senkung“ um einen Prozentpunkt auf 20 Prozent sei wichtig, weil sie ein Zeichen für eine „Rückkehr zur Normalität“ wäre. Zu den Vorzügen einer Senkung auf 19 Prozent sagte er:
„Eine Senkung des Leitzinses auf 19 Prozent würde … die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die wirtschaftlichen Wachstumsraten auf einem akzeptablen Niveau gehalten werden können und die Risiken zunehmender Zahlungsausfälle und sogar Insolvenzen aufgrund der hohen Kosten für Betriebskapital und der erhöhten Zahlungen für Kredite minimiert werden” (Russland.capital).
Zentralbank: Die Geldpolitik wird noch lange „straff“ bleiben
In einer Pressemitteilung zur Senkung ihres Leitzinses meinte die Zentralbank, die russische Wirtschaft kehre allmählich zu einem ausgewogenen Wachstumspfad zurück. Die inländische Nachfrage übersteige aber weiterhin die Möglichkeiten der Wirtschaft, das Angebot an Waren und Dienstleistungen zu erweitern. Die Zentralbank wolle weiterhin im Jahr 2026 ihr Inflationsziel von 4 Prozent erreichen. Das bedeute, die Geldpolitik werde noch lange straff bleiben.
Das betonte auch Zentralbank-Präsidentin Elwira Nabiullina in ihrem Statement. Wenn man berücksichtige, dass sich das aktuelle Inflationstempo in der russischen Wirtschaft abgeschwächt habe, bedeute die Senkung des nominalen Leitzinses von 21 auf 20 Prozent keine signifikante reale Lockerung der geldpolitischen Bedingungen.
Der aktuelle Preisauftrieb sank seit Ende 2024 bereits deutlich
Die Zentralbank wies in ihrer Presseerklärung zur Leitzinssenkung darauf hin, dass der aktuelle Anstieg der Verbraucherpreise im Monat April 2025 auf Jahresrate hochgerechnet saisonbereinigt auf 6,2 Prozent gesunken ist, nachdem er im ersten Quartal noch durchschnittlich 8,2 Prozent betragen hatte. Im vierten Quartal 2024 war diese „seasonally adjusted annualised rate (SAAR) of price growth“ sogar auf 12,9 Prozent gestiegen (Bank of Russia: Consumer Price Dynamics, April 2025; 21.05.25).
Das in Barcelona ansässige Research-Unternehmen FocusEconomics zeigt in der folgenden Abbildung, dass der Anstieg der Verbraucherpreise im April 2025 gegenüber dem Vormonat (schwarze Linie) auf nur noch 0,4 Prozent gesunken ist (linke Skala). Die jährliche Inflationsrate (blaue Säule) betrug im April aber noch 10,2 Prozent.

FocusEconomics: Russia Inflation April 2025, 16.05.25
Das Wirtschaftswachstum hat sich deutlich abgekühlt
2023 und 2024 hatten vor allem die hohen Rüstungsausgaben den Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion auf 4,1 und 4,3 Prozent angeheizt. Im vierten Quartal 2024 beschleunigte sich das jährliche Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts auf 4,5 Prozent. Im ersten Quartal 2025 erreichte es laut Rosstat aber nur noch 1,4 Prozent.
Im April 2025 beschleunigte sich der jährliche Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts der russischen Wirtschaft laut ersten Berechnungen aber wieder auf 1,9 Prozent. Laut Schätzung des Forschungsinstituts der staatlichen Bank für Außenwirtschaft (Wneschekonombank) stieg das reale Bruttoinlandsprodukt im April gegenüber dem Vormonat März saison- und kalenderbereinigt um 0,5 Prozent.

Die folgende Abbildung zeigt, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion damit im April kaum niedriger als vor rund einem halben Jahr im Oktober und November 2024 war.

VEB-Institute:„World Economy and Markets Review“, 06.06.25
Prognosen von Analysten in der Konjunktur-Umfrage der Zentralbank
Zur weiteren Konjunkturentwicklung hat die russische Zentralbank im Vorfeld ihrer Leitzinsentscheidung vom 23. bis 27. Mai Analysten in Banken, Forschungsinstituten und Medien befragt.
Die Teilnehmer der Umfrage, darunter auch einige westliche Analysten, erwarten wie bei der April-Umfrage, dass der jährliche Anstieg der russischen Verbraucherpreise bis zum Dezember 2025 im Vergleich zum Vorjahresmonat auf 7,1 Prozent sinkt, nachdem er im Dezember 2024 noch 9,5 Prozent erreicht hat (TradingEconomics-Chart).
In der Woche zum 02. Juni ist die Inflationsrate nach ersten Berechnungen des Forschungsinstituts der staatlichen Bank für Außenwirtschaft auf 9,8 Prozent gesunken.

VEB-Institute: World Economy and Markets Review, 06.06.25
Trotz des erwarteten weiteren Rückgangs der Inflationsrate im Verlauf des Jahres 2025 wird der Anstieg der Verbraucherpreise im Jahresvergleich 2025/2024 laut der Zentralbank-Umfrage mit 9,2 Prozent aber noch etwas höher sein als 2024 (+8,4 Prozent).
Eine rasche Senkung des Leitzinses der Zentralbank erwarten die Teilnehmer der Umfrage nicht. Der Leitzins, der Ende Oktober 2024 auf 21 Prozent erhöht wurde (TradingEconomics-Chart), wird laut der Umfrage im Jahresdurchschnitt 2025 mit 20,0 Prozent um 2,5 Prozentpunkte höher sein als der Leitzins im Jahresdurchschnitt 2024 (17,5 Prozent).

Bank of Russia: Macroeconomic survey of the Bank of Russia, Ausschnitt, 28.05.25
Analysten: Russlands Wirtschaft wächst 2025 um 1,5 Prozent
Die Umfrage-Teilnehmer rechnen jetzt im Mittelwert damit, dass Russlands Wirtschaftswachstum von 4,3 Prozent im Jahr 2024 auf nur noch 1,5 Prozent im Jahr 2025 sinkt. Sie nahmen ihre Prognose für das diesjährige Wachstum damit erneut um 0,1 Prozentpunkte zurück. Bei der April-Umfrage hatten sie mit +1,6 Prozent Wachstum gerechnet, bei der März-Umfrage mit +1,7 Prozent. Keiner der Teilnehmer erwartet im Jahresvergleich eine Stagnation oder Rezession

Bank of Russia: Macroeconomic survey of the Bank of Russia, 28.05.25
Die Wachstums-Prognosen für 2026 reichen von +0,5 bis +2,5 Prozent
Die Ungewissheit über die Wachstumsentwicklung ist allerdings weiterhin hoch. Die Spanne der Wachstumsprognosen der Umfrage-Teilnehmer reicht für das Jahr 2025 noch von +0,7 bis +2,1 Prozent. Damit bleiben auch besonders optimistische Teilnehmer deutlich hinter der am 21. Mai veröffentlichten Prognose des deutschen „Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ zurück. Die „Wirtschaftsweisen“ gehen von einem Wirtschaftswachstum von +2,7 Prozent in diesem Jahr in Russland aus. Die russische Regierung rechnet 2026 mit einem etwas schwächeren BIP-Anstieg von +2,5 Prozent (Interfax.com).
2026 erwarten die Umfrage-Teilnehmer ein Wachstum zwischen +0,5 Prozent und +2,5 Prozent. Im Mittelwert gehen sie davon aus, dass sich der Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Produktion im nächsten Jahr etwas beschleunigt und auf +1,7 Prozent steigt. Kein Teilnehmer rechnet im nächsten Jahr mit einer Rezession – anders als das Münchner ifo Institut in seiner Frühjahrsprognose vom 17. März (2026/2025: – 0,8 %).
2027 wird in der Zentralbank-Umfrage im Mittelwert ein weiteres Anziehen des Wachstums auf 1,9 Prozent erwartet. Die Spanne der Prognosen für die jährlichen BIP-Veränderung erweitert sich dann auf +0,0 Prozent bis +3,0 Prozent (siehe Zentralbank-Grafik).
Die Industrieproduktion ist seit Ende 2024 deutlich gesunken
Zur Entwicklung der Industrieproduktion veröffentlichte das Statistikamt Rosstat Ende Mai die April-Daten. Gegenüber dem Vormonat März wuchs die Industrieproduktion nach Schätzung des Forschungsinstituts der staatlichen Bank für Außenwirtschaft (Wneschekonombank) saison- und kalenderbereinigt um 0,6 Prozent (schwarze Linie in der folgenden Abbildung im Wochenbericht des VEB-Instituts).

Im Verlauf der ersten 4 Monate des Jahres 2025 gingen allerdings die Produktionszuwächse, die die Industrie im Verlauf des zweiten Halbjahres 2024 erreicht hat, weitgehend verloren. Dazu trug neben dem Rückgang der Produktion im Bereich „Bergbau, Förderung von Rohstoffen“ (untere hellgrüne Linie) auch der Rückgang der Produktion im „Verarbeitenden Gewerbe“ bei (obere dunkelgrüne Linie).
Im April 2025 stieg die Produktion im Verarbeitenden Gewerbe gegenüber dem Vormonat laut Schätzung des VEB-Instituts aber saison- und kalenderbereinigt um 0,2 Prozent. Anders als die Industrieproduktion insgesamt war sie im April noch deutlich höher als Mitte 2024.

Das jährliche Wachstum der Industrieproduktion stieg im April auf 1,5 Prozent
Insgesamt war die Industrieproduktion laut Rosstat im April 1,5 Prozent höher als im Vorjahresmonat (Finmarket.ru) wie die rechte Säule in der folgenden Abbildung von PSB Analytics zeigt. Der Rückgang der Produktion im Bereich „Bergbau“ schwächte sich im April auf -1,0 Prozent ab (gelbe Linie). Im „Verarbeitenden Gewerbe“ sank der jährliche Zuwachs der Produktion im April auf +3,0 Prozent (violette Linie).

In welchen Industriebranchen die Produktion seit 2021 deutlich sank
Das Forschungsinstitut BOFIT der finnischen Zentralbank hat in seinem Wochenbericht analysiert, wie unterschiedlich sich Russlands Industriezweige in den bisherigen drei Jahren des Ukraine-Krieges entwickelt haben. Es zieht folgende Zwischenbilanz:
Im Vergleich der Jahre 2024 und 2021 verzeichneten die Zweige der Rüstungsindustrie besonders hohe Produktionszuwächse (Produktion von Metallprodukten, von Computern und Elektronik sowie von Transportfahrzeugen für das Militär). Auch die Bauproduktion wuchs kräftig.
Andererseits ist gleichzeitig die Produktion in vielen wichtigen anderen Branchen aufgrund der Sanktionen und der Verschlechterung der internationalen Handelsbeziehungen Russlands drastisch gesunken.

Russlands Automobilindustrie litt unter dem Rückzug ausländischer Hersteller vom russischen Markt. Im vergangenen Jahr wurden 32 % weniger Kraftfahrzeuge produziert als 2021.
Die Produktion von Maschinen und Anlagen für den inländischen Bedarf in Russland wurde durch die eingeschränkten Importmöglichkeiten und die Priorisierung der Rüstungsindustrie beeinträchtigt. So ging beispielsweise auch die Produktion von Haushaltsgeräten im vergangenen Jahr gegenüber 2021 um rund 30 % zurück.
Der Exportstopp in die EU hat insbesondere die Holz-, Kohle-, Erdgas- und Autoreifenindustrie getroffen. Die Produktion der Sägewerke, die Produktion von Basisprodukten der Eisen- und Stahlindustrie sowie von Gummierzeugnissen sind im Vergleich zum Vorkriegsjahr 2021 um rund 10 % zurückgegangen. Ähnlich stark sank die Produktion von landwirtschaftlichen Geräten.
Auch die Kohleproduktion nahm ab. Insbesondere in den letzten Monaten hatten die Kohleproduzenten mit dem Mangel an profitablen Exportmöglichkeiten zu kämpfen. Angesichts sinkender Exportpreise und steigender Transportkosten hat die Regierung kürzlich ein spezielles Unterstützungspaket für die Kohleindustrie beschlossen.
Neue Wachstumsprognosen für Russland
Die OECD senkte Anfang Juni ihre Prognose für das diesjährige Wachstum der russischen Wirtschaft von 1,3 auf 1,0 Prozent. Demgegenüber erwarten die Teilnehmer der jüngsten Reuters-Umfrage wie auch die Teilnehmer der Zentralbank-Umfrage für 2025 ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent.
Das Moskauer „Center for Macroeconomic Analysis and Shortterm Forecasts, CMASF“ aktualisiert seine Wachstumsprognosen für Russlands Wirtschaft etwa monatlich. Ende April erwartete es für 2025 ein Wirtschaftswachstum in Russland von +1,0 bis +1,3 Prozent. Diese Prognose hob das CMASF Ende Mai auf +1,2 bis +1,5 Prozent an.

Quellen und Lesetipps:
- The Moscow Times.ru: „Calendar of a Possible Crisis“: Pro-Kremlin Economists Warn of Stagflation Risk, 07.06.25
- Carnegie Endowment For International Peace: „Carnegie Politika“ Podcast by Alexander Gabuev and Alexandra Prokopenko: How Stable Is the Russian War Economy? 05.06.25
- Center for Strategic and International Studies (CSIS); Maria Snegovaya, Nicholas Fenton, Tina Dolbaia, Max Bergmann: The Russian Wartime Economy. From Sugar High to Hangover, 05.06.25
- TradingView; Invezz: Putin’s war economy gamble: how long can Russia sustain the cost? 04.06.25
- Vedomosti: CMASF-expert warns of risks of technical recession in coming months, 04.06.25
- Vedomosti-Interview: Anastasia Boyko, Ksenia Kotchenko: Dmitry Belousov: “Everyone is participating in the technology race, but few will win”, 04.06.25
- The Moscow Times.ru: „More and more industries are showing decline.“ The government asks the Central Bank to support the economy, 04.06.2025
- Bloomberg, TheEdgeMalaysia: Putin’s war economy roars ahead but the rest of Russia struggles, 04.06.
- The Riddle; Nick Trickett: Hydraulic Putinism: Misusing and abusing «stability», 04.06.25
- Investing.vom; Reuters: Russia’s economy minister calls for ’timely’ rate cut to boost growth, 03.06.25
- YahooFinance; Reuters; Gleb Bryanski and Elena Fabrichnaya: Russian central bank seen keeping key rate on hold at 21%: Reuters poll, 02.06.25
- n-tv.de; Lea Verstl: Moskaus Haushaltsdefizit wächst. Putin plündert Rentenfonds der Russen für den Krieg, Artikel vom 01.06.25 zum ntv-Podcast „Wieder was gelernt“ mit Alexandra Prokopenko, Carnegie Endowement for International Peace: Putin plündert Rentenfonds der Russen für den Krieg, 30.05.25
- Newsweek; Brendan Cole: Russia’s Economy Facing Triple Threat, 31.05.25
- Institute for Economics and Peace (IEP); Amir Najafi, IEP Research Fellow: Russia’s War Economy: Growth Built on Unsustainable Foundations, 30.05.25
- Finam.ru; Olga Belenkaya: The Central Bank has a difficult choice between maintaining and reducing the key rate, 30.05.25
- Handelsblatt+: Interview mit Janis Kluge (Stiftung Wissenschaft und Politik); Mareike Müller, Judith Henke: Drohende Rezession. Kurz vor dem Kollaps? Wie es um Russlands Wirtschaft steht, 29.05.25

