Autor: Klaus Dormann


Die vom Fürsten von Liechtenstein gegründete „Geopolitical Intelligence Services AG“ veröffentlichte in einem „GIS Report“ am 09. Oktober eine Analyse zum Beitrag der  Ukraine zur Energieversorgung Europas. Ende 2024 hatte die Ukraine die Weiterleitung von russischem Erdgas ins westliche Europa endgültig beendet. Jetzt sieht Prof. Stefan Hedlund, Professor emeritus des „Centre for Russian and Eurasian Studies“ der schwedischen Universität Uppsala, aber wieder Möglichkeiten, dass die Ukraine erneut eine „Energie-Drehscheibe“ für Europa werden kann. „Ukraine as an energy hub for Europe“ ist seine Analyse überschrieben.

Hedlund meint, dass die Ukraine derzeit nicht nur gute Aussichten habe, bei der Entwicklung neuer und kostengünstiger Waffen zu einer „tragenden Säule“ für Europa zu werden. Die Ukraine habe auch gute Chancen, Russland als Energiepartner für Europa zu ersetzen. Dazu verweist Hedlund vor allem darauf, dass Erdgas aus Aserbaidschan über Georgien, die Türkei und den Balkan in die Ukraine gepumpt werden kann. Erste Lieferungen aus Aserbaidschan seien bereits im August in der Ukraine eingetroffen. Dort könnten die großen ukrainischen  Erdgasspeicher als „Zwischenlager“ genutzt und das Gas aus Aserbaidschan von der Ukraine nach Westen weitergeleitet werden.

Wie trug die Ukraine bis 2025 zur Erdgasversorgung Europas bei?

Die Leistungen der Ukraine beim Transport von russischem Erdgas nach Europa beschreibt Hedlund anhand folgender Karte. Die Gasspeicher in der Ukraine sind in der Karte mit Punkten markiert. Das Speichersysten der Ukraine ist laut Hedlund das größte Europas und das drittgrößte weltweit. Es besteht aus zwölf über das Land verteilten Anlagen: fünf im Osten, zwei im Zentrum und fünf im Westen. Die Gesamtkapazität beträgt 31 Milliarden Kubikmeter. Der größte Teil der Speicherkapazität befindet sich im Westen, nahe den europäischen Märkten.

Erdgasleitungen zwischen Russland und Europa sowie der Türkei,
Erdgasspeicher in der Ukraine

Die Ukraine entwickelt sich zu einem Gasspeicherzentrum für Europa. © GIS

Die Einfuhr von russischem Erdgas in die Ukraine erfolgte vor allem über drei „Hauptleitungen“.

Die Yamal-Leitung transportierte Gas von der Jamal-Halbinsel am Nordpolarmeer über Weißrussland bis 2022 nach Polen und Deutschland. Ein Abzweig der Leitung führt von Weißrussland zur Ukraine.

Die Brotherhood-Leitung transportierte Gas aus West- und Nordsibirien in die Ukraine.

Die Soyus-Leitung transportierte Gas aus Zentralasien in die Ukraine.

Diese drei Hauptleitungen münden in der Westukraine in die Transgaz-Leitung. Durch sie wurde das russische Gas bis Ende 2024 weiter in die Slowakische Republik geleitet. Von dort wurde es in die Tschechische Republik und nach Deutschland sowie nach Österreich transportiert.

Seit dem 1. Januar 2025 liefert die Ukraine jedoch kein Erdgas aus Russland mehr nach Westen. Die Ukraine verlängerte den Transitvertrag mit Russland nicht mehr. An dieser Entscheidung hielt sie, so Hedlund, „unerschütterlich“ fest, trotz lautstarker Proteste einiger mitteleuropäischer Länder, die stark von russischen Gasimporten abhängig sind.

Der zwischen der ukrainischen Gasgesellschaft Naftogaz Ukrainy und der russischen Gazprom unter Vermittlung Deutschlands und der EU im Jahr 2019 abgeschlossene Transitvertrag sah vor, dass 2020 mindestens 65 Milliarden Kubikmeter und von 2021 bis 2024 mindestens 40 Milliarden Kubikmeter pro Jahr durch die Ukraine an westliche Nachbarstaaten transportiert werden sollten. Darauf weist Dr. Roland Götz in einem in den „Ukraine-Anlaysen“ veröffentlichten Artikel zur Beendigung der Transitlieferungen durch die Ukraine hin. Die Möglichkeit einer Verlängerung der Laufzeit um 10 Jahre sei im Vertrag ausdrücklich vorgesehen gewesen.

Stellvertretender Ministerpräsident Nowak:
Der Anteil Russlands an Europas Gaseinfuhren hat sich auf 19 Prozent halbiert

Nach Angaben des russischen Stellvertretenden Ministerpräsidenten Alexander Nowak bei der „Russian Energy Week“ am 15. Oktober hat sich der Anteil Russlands an den gesamten Gaseinfuhren der europäischen Länder inzwischen etwa halbiert. Nowak sagte laut Interfax:

„Früher machte russisches Gas etwa 44 Prozent der europäischen Energiebilanz aus; heute liegt sein Anteil an den Gesamtimporten bei etwa 19 Prozent. Das heißt, er hat sich halbiert.“

Nach Angaben der EU-Kommission kamen 2024 noch 19 Prozent der Gaseinfuhren der EU aus Russland (Tagesschau.de). Laut einem von der Bundeszentrale für Politische Bildung veröffentlichten Artikel von Prof. Frank Bösch, Direktor des Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, kamen EU-weit „in den 2010er Jahren rund 40 Prozent der Gasimporte aus Russland, zudem rund 30 Prozent der Ölimporte und über ein Drittel der Kohleeinfuhren“ (siehe auch: „Bloomsbury Intelligence and Security Institute (BISI)“ und DIW).

Der Stellvertretende Ministerpräsident Nowak versicherte bei der „Russian Energy Week“, dass Russland bereit sei, seine Gaslieferungen nach Europa auf Anfrage zu erhöhen. Er erinnerte daran, dass Russland der EU in Zeiten hohen Verbrauchs, etwa in kalten Wintern, bisher stets entgegengekommen sei, wenn es um zusätzliche Gaslieferungen ging.

Prof. Hedlund: Russland nutzt den Gasexport als „geopolitisches Instrument“

Stefan Hedlund betont in seinem GIS-Report, dass Russlands Gasexporte durch die Ukraine in wirtschaftlicher Hinsicht für das Land eine geringere Bedeutung als seine Ölexporte hatten.

Die russische Regierung habe ihre Gaslieferungen jedoch als wirkungsvolles politisches Druckmittel eingesetzt. Noch in den letzten Monaten habe Russland Gaslieferungen nach Armenien angehalten (siehe Erklärung der Deutsch-Armenischen Gesellschaft zu wiederholten Unterbrechungen der Gaslieferungen innerhalb von drei Monaten).

Russland muss mit einem starken Rückgang der Exporteinnahmen rechnen

Prof. Hedlund rechnet mit einem starken und anhaltenden Rückgang der Einnahmen Russlands aus dem Gasexport. Teilweise sei der Rückgang der Gasausfuhren per  Pipeline zwar durch den Export von verflüssigtem Erdgas (LNG) ausgeglichen worden. Das sei – so Hedlund – jedoch „keine nachhaltige Option“.

Auch von Erdgasausfuhren nach China kann Russland nach Einschätzung Hedlunds nur wenig erwarten. Die chinesische Regierung habe zwar nach jahrelangem verhaltenem Interesse dem Bau einer zweiten Pipeline nach China – der „Power of Siberia II“ – zugestimmt (Wikipedia). Der Bau sei aber noch ungewiss. Russland würde damit von einem einzigen Kunden abhängig werden, der für seine harten Verhandlungen bekannt sei und hohe Preisnachlässe verlange.

Wie die Ukraine zu Erdgaseinfuhren aus Aserbaidschan kommt

Ende Juli 2025 unterzeichneten die staatlichen Energieunternehmen der Ukraine und Aserbaidschans – Naftogaz und SOCAR – ein Abkommen zum Erdgasbezug aus Aserbaidschan. Die ersten Lieferungen aus Aserbaidschan trafen Anfang August in der Ukraine ein. Sie erreichen die Ukraine über Georgien, die Türkei, Bulgarien und Rumänien. Der Transport von Aserbaidschan durch die Türkei erfolgt über die „Trans-Anatolian-Pipeline“ (TANAP). Von der Türkei zur Ukraine fließt das Gas durch die „Trans-Balkan-Pipeline (TBP)“. Sie wurde ursprünglich für Lieferung von Gas aus der Ukraine in die Türkei gebaut. Heute ist sie nur wenig ausgelastet und kann in umgekehrter Richtung für Lieferungen von der Türkei in die Balkanstaaten genutzt werden.

Hedlund schildert die aktuelle Versorgungslage der Ukraine mit Erdgas so: Die Ukraine selbst fördert jährlich fast 20 Milliarden Kubikmeter. Damit kann sie ihren Eigenbedarf für den größten Teil des Jahres decken. Im Winter ist sie jedoch auf importiertes Gas aus ihren Speichern angewiesen. Nach den russischen Bombenangriffen auf die ukrainische Energieinfrastruktur waren diese Reserven bis zum Spätsommer 2025 deutlich geschrumpft. Das aus Aserbaidschan importierte Gas wird dazu beitragen, diese lebenswichtigen Vorräte wieder aufzufüllen (Tagesschau-Bericht zu neuen russischen Angriffen).

Hedlund: Die Ukraine kann zu einem „energy hub“ für Europa werden

Prof. Hedlund ordnet den Erdgaslieferungen aus Aserbaidschan große Bedeutung für die Ukraine zu. Die Ukraine könne eine „Energie-Drehscheibe“ für Europa werden:

„Die Öffnung der Verbindungen nach Aserbaidschan bedeutet für die Ukraine weit mehr als nur die Sicherung der inländischen Nachfrage. Langfristig geht es um den möglichen Aufstieg der Ukraine zu einem „energy hub“ für Europa. Kiews jüngstes Angebot, Baku Zugang zu seinen Gasspeichern zu gewähren, war mehr als nur eine Geste der Freundschaft. Es könnte der erste Schritt zum Aufbau einer neuen Infrastruktur für Energiedienstleistungen für Kunden in der EU gewesen sein.“

Hedlund weist außerdem darauf hin, dass der Ukraine mit ihren bedeutenden Speicheranlagen mittels der „Trans-Balkan-Pipeline“ auch eine Verbindung zu den LNG-Terminals in Griechenland und der Türkei verschafft wird.  Auch eine Verbindung mit offshore-Förderstätten in Rumänien und möglicherweise Bulgarien sei durch die Pipeline möglich.

Russland hat seine Rolle als wichtiger Energielieferant Europas verloren

Das unwährscheinlichste Szenario für die weitere Entwicklung ist nach Einschätzung von Prof. Hedlund, dass Russland seine frühere Rolle als wichtiger Energielieferant für westlich und südlich gelegene Staaten zumindest teilweise wieder einnehmen kann. Das könnte nämlich die Wiederaufnahme von Lieferungen durch die Nord Stream-Pipeline und von Energieexporten durch die Ukraine erfordern.

Die Hindernisse dafür zu überwinden, sei aber schwer, wenn nicht gar unmöglich. Der Wunsch des Westens, Russlands Energieeinnahmen zu reduzieren, mache dieses Szenario wenig wahrscheinlich. Berlin und Brüssel wollten den Betrieb der Nord Stream-Pipeline nicht wieder aufnehmen. Zudem setze die Ukraine ihre Drohnenangriffe auf die russische Druschba-Pipeline und wichtige Exportterminals wie das in Ust-Luga bei St. Petersburg fort.

Ein wahrscheinlicheres kurzfristiges Szenario ist aus Sicht von Hedlund, dass Russland Aserbaidschans wachsende Rolle als Energielieferant für Europa gewaltsam zu blockieren versucht. Hedlund verweist dazu unter anderem darauf, dass Russland am 06. August eine Messstation an der Trans-Balkan-Pipeline in der Nähe der rumänischen Grenze angegriffen habe. Zwei Tage später habe es ein Öldepot der aserbaidschanischen SOCAR nahe Odessa angegriffen (MarketScreener).

Russlands Einfluss auf die westlichen Energiemärkte wird „marginalisiert“

Das wahrscheinlichste mittelfristige Szenario ist für Professor Hedlund, dass die Ukraine Russland an ihren Energiebeziehungen mit Europa nicht beteiligen wird. Zur Begründung verweist er darauf, das die EU bei der Regierung in Aserbaidschan schon lange um höhere Gaslieferungen aus dem Kaspischen Becken werbe. Derzeit werde mit einem deutlichen Anstieg der Lieferungen gerechnet.

Sollte die Türkei die Kapazitäten ihrer durch die Türkei führenden „Trans-Anatolian-Pipeline (TANAP)“ weiter ausbauen, könnte dies dazu führen, dass Entscheidungen zum Bau der geplanten „Transkaspischen Pipeline“ getroffen werden. Sie soll Gas aus Turkmenistan durch das Kaspische Meer nach Aserbaidschan transportieren. Das würde den Transport großer Gasmengen von Turkmenistan nach Europa ermöglichen.

Die Rolle der Ukraine in dieser neuen internationalen Energieinfrastruktur bestünde laut Professor Hedlund darin, ihre Gasspeicher als „stabilisierende Drehscheibe“ anzubieten.

Zu einer „völligen Marginalisierung“ des russischen Einflusses auf die Energiemärkte im Westen würde es nach Meinung Hedlunds langfristig führen, wenn auch Kasachstan seine Ölexporte umlenkt. Bisher exportiert Kasachstan sein Öl hauptsächlich durch Südrussland zu einem russischen Exportterminal in Noworossijsk an der Schwarzmeerküste. Kasachstan nutzt inzwischen aber auch Tanker, um Öl nach Baku in Aserbaidschan und dann per Pipeline weiter in die Türkei und nach Europa zu transportieren. Sollte diese Route dauerhaft zur Hauptroute für Ölexporte aus Kasachstan werden, würde laut Hedlund die Position Russlands in der internationalen Energieversorgung weiter geschwächt.

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