Die Geoökonomie-Kolumne „ZEITZEUGE“
Autor: Alexander Rahr

Die Europäische Union will in wenigen Monaten alle Erdgas- und Erdöllieferungen aus Russland stoppen. Der Bann auf russische Energieträger soll auch im Falle eines Endes des Krieges in der Ukraine gelten. Die EU-Spitzen erklären, sie wollen mit dem Verzicht auf russische Energielieferungen dem Kreml die „Energiewaffe“ aus der Hand nehmen, mit der Moskau Europa mutmaßlich immer bedroht hat.
Statt den russischen Energieabhängigkeiten, setzt sich die EU damit der amerikanischen Energieabhängigkeit und „Waffe“ aus. Die einzig wahre Alternative zum russischen Öl und Gas kann nur amerikanisches Schieferöl und Flüssigkeitsgas lauten, das aus dem ökologisch schädlichen Fracking gewonnen wird. Die künftige Identität Europas liegt nicht mehr, wie noch vor Kurzem, im Green Deal, sondern in der Militarisierung gegen Russland (und danach China). Die Energiewaffe wird jetzt gegen Russland gerichtet: Gazprom, Rosneft und anderen russischen Energieproduzenten soll der Garaus gemacht werden, damit der Kreml künftig keine Kriege mehr führen kann.
Deutschland, als führendes europäisches Energieimportland, hat sich die Sichtweise der Polen und Balten zueigen gemacht, die seit ihrem Beitritt zur EU und NATO gegen Russland opponieren. Die Abwendung von Russland stösst die EU jedoch, ohne dass die Brüsseler Führung es ahnt, in eine energetische Dauerkrise, die zu einer latenten Schwächung der europäischen Wirtschaft führen wird.
Länder wie die Ukraine, Ungarn, Slowakei sind ohne russische Energielieferungen in ihrer Existenz bedroht; sie können nicht dauerhaft künstlich aus Westeuropa beliefert werden. Europa muss ihre Rohstoffarmut als eine gefährliche Herausforderung für die Zukunft begreifen. Länder wie Russland und China werden langfristig viel wichtigere Wirtschaftspartner und Garanten für die Rohstoffsicherheit Europas sein, als die USA.
Über ein strategisches Energielieferland schaut Europa stiefmütterlich hinweg. Über die Türkei laufen derzeit die restlichen Gaslieferungen aus Russland in die EU. Für die Türkei ist der Transit eine wichtige Einnahmequelle, auf die Ankara nicht verzichten kann. Deshalb ist es nicht vorstellbar, dass die EU 2027, wie jetzt beschlossen, den Türken den Gashahn zudreht.
Schliesslich bleibt noch das Problem der Nord Stream Leitungen. Für diese Pipelines gilt der EU-Bann für russisches Gas an erster Stelle. Vorstellbar wäre jedoch, dass nach Beendigung des Ukraine-Konflikts, amerikanische Konzerne die brachliegenden Pipelines übernehmen, um die EU künftig mit Erdgas aus Russland und den zentralasiatischen Staaten zu beliefern. Das durch die Röhren nach Westen gepumpte Gas wäre formell amerikanisch, weil die USA die Ware an der Grenze zu Russland kaufen würden.
Das letzte Wort in Sachen europäische Energiesicherheit ist nicht gesprochen. Eigentlich würde die EU ein Eigentor schießen, wenn die die riesigen Rohstoff- und Energiepotenziale Sibiriens den Chinesen überlassen würde.

