Türkei: Eine turbulente Transformation – Tina Blohm im Gespräch

Jonas Prien Türkei

Autor: Jonas Prien, Podcast-Host: „Türk it Easy“

Jonas Prien Zentralasien

Die Türkei steht an einem neuralgischen Punkt ihrer jüngeren Geschichte. Der Balanceakt zwischen wirtschaftlicher Modernisierung, sozialer Kohäsion und außenpolitischer Selbstverortung fordert nicht nur politische Institutionen heraus, sondern stellt auch zivilgesellschaftliche Akteure vor komplexe Aufgaben. Im Gespräch mit Tina Blohm, der Leiterin des Istanbuler FES-Büros, eröffnet sich ein differenziertes Panorama aktueller Entwicklungen und strategischer Herausforderungen. 

Soziale Gerechtigkeit unter ökonomischem Druck

Die wirtschaftliche Situation in der Türkei spitzt sich zu: galoppierende Inflation, rasant steigende Mieten und ein drastischer Kaufkraftverlust dominieren den Alltag breiter Bevölkerungsschichten. Zwar wird der Mindestlohn regelmäßig angepasst, doch wie Blohm nüchtern festhält, „bleibt der reale Wert für viele Menschen rückläufig – insbesondere im urbanen Raum, wo Mietsteigerungen von bis zu 100 Prozent keine Ausnahme sind.“

Inmitten dieser sozialen Schieflage engagiert sich die FES seit Jahrzehnten für die Stärkung gewerkschaftlicher Strukturen und Arbeitsrechte. Doch das Terrain ist schwierig. „Gewerkschaften operieren unter starkem politischen Druck, mit niedriger Organisationsrate und erheblichen rechtlichen Hürden“, erklärt Blohm. Die FES versteht sich hier als Brückenbauerin: durch politische Bildung, Diskursräume und die Vernetzung progressiver Akteure wird versucht, gesellschaftlichen Wandel von unten zu befördern.

Zwischen Rente und Resignation: Ein Generationenporträt

Der soziale Wandel betrifft nicht nur Lohnabhängige. Auch Rentner geraten zunehmend in prekäre Lagen. Trotz formaler früher Renteneintritte reicht die Altersvorsorge kaum aus, um ein würdiges Leben zu führen. Viele arbeiten aus wirtschaftlicher Not weiter. Parallel dazu wächst unter der Jugend das Gefühl politischer Entfremdung. Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit und die Erosion demokratischer Teilhabe verstärken das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen. „Viele junge Menschen sehen für sich keine Zukunft – weder wirtschaftlich noch politisch“, resümiert Blohm. Dies ist auch ein Grund, warum zivilgesellschaftliche Bildungsarbeit, wie sie die FES leistet, einen so zentralen Stellenwert hat.

Die Türkei als geopolitischer Akteur – und Suchende

Außenpolitisch präsentiert sich die Türkei zunehmend als „geopolitischer Scharnierstaat“ – zwischen Europa, dem Nahen Osten, Zentralasien und Afrika. Der außenpolitische Kurs ist diversifiziert, teilweise widersprüchlich, aber strategisch motiviert. Trotz Differenzen bleibt Europa ein Referenzrahmen. „Gerade die EU-Mitgliedschaft ist für viele in der Opposition nach wie vor ein symbolisch starkes Ziel“, sagt Blohm. Projekte wie die Modernisierung der Zollunion oder Visaerleichterungen würden hier wichtige Signale senden. Dies sei nicht zuletzt für die Zivilgesellschaft, die häufig den Preis politischer Abschottung zahlt, von besonderer Bedeutung. 

Die Rolle der FES sei es dabei, Räume für Dialog zu öffnen und den Blick auf langfristige Kooperation zu richten – jenseits aktueller Irritationen. „Wir arbeiten bewusst in beide Richtungen: mit Partnern in der Türkei, aber auch mit Entscheidungsträger:innen in Europa, um Verständnis und nachhaltige Strategien zu fördern.“

Diaspora, Teilhabe und kulturelle Rückkopplung

Auch die türkischstämmige Community in Deutschland steht vor Herausforderungen. Obwohl rund fünf Millionen Menschen mit türkischer Herkunft dort leben, ist ihre politische Repräsentation im Bundestag rückläufig. „Nur elf Abgeordnete mit türkischem Hintergrund, das ist bemerkenswert wenig“, so Blohm. Gleichzeitig bestehen vielfältige Netzwerke (etwa in der kommunalen Zusammenarbeit oder über Städtepartnerschaften), die Räume für grenzüberschreitenden Austausch schaffen.

Dennoch verweist Blohm auf eine zunehmende Distanz jüngerer Generationen zur deutschen Gesellschaft. Wenn Deutschland nicht mehr als Ort der Hoffnung, sondern als Abgrenzung wahrgenommen wird, sinkt auch die Motivation, sich kulturell oder sprachlich anzunähern. Hier sei auch die deutsche Außenkulturpolitik gefordert – etwa durch verstärkte Investitionen in Bildungsangebote wie DAAD-Stipendien oder Programme des Goethe-Instituts.

Die Rolle der FES: Moderieren, begleiten, bestärken

In einem politischen Umfeld, das zunehmend autoritär geprägt ist, bleibt die Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung ein Balanceakt zwischen kritischer Distanz und konstruktivem Engagement. Die Stiftung agiert nicht als außenpolitischer Akteur im klassischen Sinne, sondern als Mittlerin gesellschaftlicher Lernprozesse. Sie unterstützt progressive Kräfte, fördert demokratische Diskurse und bietet Plattformen für Austausch und Reflexion.

„Wir sind nicht neutral, aber unabhängig“, betont Blohm. Die Arbeit der FES orientiert sich klar an den Prinzipien sozialer Demokratie, Menschenrechte, soziale Teilhabe, internationale Solidarität, ohne in parteipolitische Rivalitäten involviert zu sein.

Ein vorsichtiger Optimismus

Wie lassen sich unter diesen Voraussetzungen Perspektiven für die deutsch-türkischen Beziehungen formulieren? Blohms Antwort bleibt bewusst zurückhaltend, aber nicht resignativ: „Die politische Entwicklung in der Türkei bleibt volatil. Aber wir erleben eine große Bereitschaft zum Austausch, gerade in schwierigen Zeiten. Das ist ein Fundament, auf dem man weiterbauen kann.“

In einer Welt, in der nationale Abschottungstendenzen und geopolitische Spannungen zunehmen, erscheint diese Haltung als leise, aber entschiedene Stimme der Vernunft – getragen von der Hoffnung, dass gesellschaftlicher Dialog auch in stürmischen Zeiten möglich bleibt.


Tina Blohm leitet die Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Istanbul und Ankara. Im Podcast “TÜRK IT EASY” spricht sie über soziale Fragen, Europa und die lange Wirtschaftstransformation in der Türkei.

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